Mit dem Kanu unterwegs im Land der tausend Seen.

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Der Blick vom 347 Meter hohen Berg Koli auf den Pielinensee. Und die finnische Legende dazu: Eine der 1.900 Inseln ist ein Stöpsel, mit dem man das Wasser auslassen kann.

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Neben Heidelbeeren kann man sich an ...

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... frischem Lachs laben.

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Zum Glück blieb der Stöpsel an seinem Platz. Sonst wäre womöglich Finnlands viertgrößter See ausgeronnen und das einzigartige Panorama verloren gegangen: Der weite Blick über den Pielinensee mit seinen 1.900 Inseln, die sich waldgrün wie von Malerhand zufällig hingetupft über die tiefblaue Wasserfläche verteilen, bis zum Horizont und fast bis zur Grenze mit Russland. Über dieser Szenerie spannt sich der Himmel mit seinen Schäfchenwolken wie ein Spiegel: Nur dort oben sind es weiße Tupfer auf Hellblau. Die Wipfel der Fichten rahmen die Aussicht wie ein feingearbeiteter Scherenschnitt.

"Das da unten ist Tappi, der Stöpsel." Wanderführer Joona Sarisalmi steht 347 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Ukko Koli – Finnlands wohl bekanntestem Hügel im Koli-Nationalpark, rund 500 nordöstlich von Helsinki – und zeigt auf ein rundes Eiland im Pielinensee: "Die Legende besagt, dass die Fischer zu Urzeiten dem Herrscher von Koli einen Teil ihres Fangs überlassen mussten. Sonst würde er den Stöpsel ziehen, auf dass alles Wasser aus dem See abfließe und die Fischer ihrer Lebensgrundlage beraubt wären."

Finnische Nationallandschaft

Der Koli-Nationalpark in Nordkarelien, der östlichsten Region Westeuropas, gilt als finnische Nationallandschaft schlechthin. Zur Zeit der Romantik Ende des 19. Jahrhunderts ließen sich hier viele Maler inspirieren, darunter Eero Järnefelt, ein finnischer Vertreter des Realismus. 1909 bestieg er den Koli mit seinem Schwager, dem Komponisten Jean Sibelius. Der befand sich gerade in einer Umbruchphase seines Schaffens, suchte nach Impressionen in der Natur. Auf der Anhöhe hörte er "dem Sausen der Winde und dem Rauschen des Sturmes" zu.

"Ein paar kräftige Bauernburschen sollen ihm sogar ein Klavier auf den Ukko Koli geschleppt haben", erzählt Sarisalmi die beliebte Anekdote beim Abstieg. Sicher ist, dass Sibelius die Reise nach Karelien für eines der größten Erlebnisse seines Lebens hielt und die vierte Symphonie, an der er damals gerade arbeitete, düster, mitunter befremdlich klingt.

Höher als der Mount Everest

Die uralten Hügel des Koli sind Überreste einer Gebirgskette, die vor rund zwei Milliarden Jahren entstand und einst höher als der Himalaya gewesen sein muss. Das weiß man von der Zusammensetzung des Quarzitgesteins. Und der Ukko Koli – benannt nach dem Blitze schleudernden Göttervater der altfinnischen Religion Suomenusko – ist das Höchste, was die Erosion übriggelassen hat, blankgeschliffen von Gletschermassen wie die Glatze eines alten Mannes.

Nichtsdestotrotz sind diese Hügel für die Flachland gewohnten Finnen eine Berglandschaft, die zum Wandern genutzt wird. Ein Wegenetz von über 80 Kilometern überzieht den Nationalpark – von der nur eineinhalb Kilometer langen "Tour der Gipfel" bis zu 30 oder 60 Kilometer langen, mehrtägigen Rundkursen.

Unter den Zweigen der Fichten duftet es nach Harz und Schwammerl. Rotkappen, Röhrlinge und Steinpilze verstecken sich am Waldboden. "Wenn ihr nach oben schaut, seht ihr, dass viele Baumkronen abgeknickt sind", sagt Joona. "Das hat der 'Tykkylumi' angerichtet – so nennen wir eine Art von schwerem Schnee. Die Winter sind hier sehr kalt und die Bäume krümmen sich jedes Jahr unter extrem hohen Lasten von bis zu 3.000 Kilogramm Schnee."

Garantie auf den Winter

Da Nordkarelien im Winter garantiert Schnee bietet und viele Gewässer zufrieren, kommen gerade in der kalten Jahreszeit immer mehr Reisende. Dann lässt sich die Natur mit Langlaufskiern, auf Schlittschuhen, mit Schneeschuhen, Husky-Schlitten, Motorschlitten oder vom Pferderücken aus erkunden. Sehr beliebt ist bei den Finnen wie bei den Urlaubern auch das Eisfischen. Im Sommer, wenn die Wassertemperaturen auf über 20 Grad steigen, ist die nordkarelische Seenlandschaft ein ideales Terrain für Bootstouren – ob mit dem Kanu, dem Kajak oder einem der traditionellen hölzernen Boote, mit denen früher ganze Dorfgemeinden über den See zum Gottesdienst gerudert sind – daher der Name "Kirchboot".

Ganz ohne Ruder, dafür mit einem starken Motor ausgestattet ist das Holzboot, mit dem Jarkko Peltola seine in Schwimmwesten und Regenumhänge eingepackten Passagiere über die Stromschnellen der verzweigten Wasserarme im Ruunaa-Naturpark im Grenzgebiet zu Russland bringt. Er weiß genau, wie er die schäumenden Wasserwalzen anfahren muss, damit keine Wellen über die kreischenden Mädchen im Bug schwappen. Die Schadenfreude auf den hinteren, vermeintlich trockenen Plätzen, ist nur von kurzer Dauer. Nass wird auf dieser turbulenten Fahrt früher oder später jeder, dafür sorgt Jarkko schon – ohne eine Miene zu verziehen.

Von Beeren und Bären

Gelegenheit zum Trocknen gibt es dann am Lagerfeuer auf einem Rastplatz inmitten unberührter Wildnis mit alten Birken- und Kiefernwäldern, Mooren und Seen. Die Abenteurer schaufeln sich hungrig gegrillten Lachs, Rentierfleisch, Erdäpfelpüree und einen herrlichen Schwammerlsalat auf ihre Teller. Dazu gibt es selbstgebrautes Bier und karelische Piroggen, handliche Tascherl aus dünnem Roggenteig und einer Reisfüllung, die dick mit einer Mischung aus hartgekochtem Ei und Butter bestrichen werden. "Wer viel draußen ist, braucht viel Kalorien", brummt Jarkko.

Wen es in dieser Gegend trotz der deftigen Mahlzeiten noch nach Süßem gelüstet, der sammelt sich den Nachtisch einfach von den Sträuchern des Waldes: Himbeeren, Preiselbeeren, Moltebeeren, Moosbeeren und vor allem Blaubeeren wachsen im kurzen, aber intensiven finnischen Sommer in Hülle und Fülle. Und hier, ganz im Osten des Landes, bekommen sie wegen der sommerlichen Schönwetter-Hochdruckgebiete aus Russland auch ein ganz besonderes Aroma.

Zehn Menschen pro Tag

Je weiter man sich vom Rastplatz erntfernt, desto mehr rückt die Stille ins Bewusstsein. Nordkarelien gehört zu den am dünnsten besiedelten Gegenden Finnlands. Es heißt, wenn Wanderer bei ihren Touren durch die Wildnis mehr als zehn Menschen pro Tag erblicken, dann ist das schon ungewöhnlich viel. Stattdessen bevölkern Elche, Luchse und Wölfe die Wälder. Auch der Bestand an Braunbären wächst, da immer wieder Exemplare über die grüne Grenze aus Russisch-Karelien einwandern.

Die Wahrscheinlichkeit, einem dieser scheuen Tiere zu begegnen, ist allerdings gering. Ganz anders verhält es sich mit den Gelsen: Diese Plagegeister lassen sich im Sommer trotz Schutz nur schwer von ihrer Stechlust abhalten. Erst im Herbst lässt ihr Appetit nach, und in den eiskalten Wintern ist man diesbezüglich sowieso auf der sicheren Seite. (Gabriela Beck, 4.10.2016)