"Mangelnde Lese-und Schreibfähigkeiten sind weit verbreitet, auch in den Industrieländern. Man kann etwas dagegen tun! Und es sind sicherlich auch die Flüchtlinge, die aufholen müssen, aber eben nicht nur sie", sagt Werner Mauch, Leiter des Programmbereichs Erwachsenenbildung am Unesco Institute for Lifelong Learning in Hamburg.

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Werner Mauch (59) ist Leiter des Programmbereichs Erwachsenenbildung am Unesco Institute for Lifelong Learning in Hamburg.

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STANDARD: Beim Thema Digitalisierung und Lernen reichen die Positionen von Euphorie bis Abgrund – welche vertreten Sie?

Mauch: Da muss man immer in Chancen und Risiken denken. Die Digitalisierung bietet unglaubliche Zugriffsmöglichkeiten auf Wissen. Information kann sehr schnell sehr weit verbreitet werden. Auch Gemeinschaften zu bilden, funktioniert im Netz wunderbar. Gleichzeitig schließen die neuen Techniken aber auch aus, es entsteht eine digitale Kluft. Weitere Gefahren sind etwa mangelnder Datenschutz und allerhand mehr in Richtung "Big Data". Dennoch: Wir müssen die Chancen nutzen, die die Digitalisierung bietet. Das heißt nicht unbedingt, alle Lernenden mit Computern auszustatten – viele Gelegenheiten sind schon da, wir müssen sie nur ergreifen. In vielen Ländern gehören Handys zum Alltag. Die lassen sich auch für Lernprogramme nutzen.

STANDARD: Für die Erwachsenenbildung legen sich die Unesco-Mitgliedsländer alle zwölf Jahre selbst Leitlinien, "Aktionsrahmen zur Erwachsenenbildung", auf. Wie läuft die Umsetzung?

Mauch: Das überprüfen wir im Dreijahresabstand. Dafür fragen wir alle Mitgliedsländer: Wie weit seid ihr? Um dann Schlüsse zu ziehen. Der neueste Weltreport ist gerade erschienen, bekannt als "GRALE III". Die Länder sagen darin, dass in allen fünf Bereichen* signifikante Fortschritte erzielt wurden, aber auch noch viel zu tun bleibt.

STANDARD: Es geht auch um die Durchlässigkeit verschiedener Bildungswege und darum, Lernfortschritte durch non-formales oder informelles Lernen auch anzuerkennen. Österreich versucht das unter anderem auch über den Qualifikationsrahmen (NQR), der Bildungsabschlüsse einer Skala zuordnet. Seine Umsetzung zieht sich bereits über Jahre. Von wegen Fortschritte.

Mauch: Die Idee gibt es schon seit den 1970er Jahren, ihre Umsetzung allerdings erwies sich als durchaus anspruchsvoll: Wie kann man Kompetenzen bewerten und anerkennen, die nicht im klassischen Bildungskanon untergebracht sind? Man weiß doch viel mehr, als einem formale Qualifikationen bestätigen. Und Alltagslernen ist ganz wichtig: Wohl 80 Prozent von dem, was wir wissen, kommen daher. Und genau dazu forschen wir und fördern die Umsetzung in den Mitgliedsländern durch entsprechende Leitlinien.

Standard: Der neueste Trend, informelle Qualifikationen anzuerkennen, sind sogenannte Digitale Badges, eine Art digitale Zertifikate. Werden sie sich durchsetzen?

Mauch: Sicherlich bieten die neuen Medien da allerhand Möglichkeiten. Wir verfolgen das weiter.

STANDARD: Nun ist das vermeintlich eher ein westliches Problem – andere Unesco-Länder stehen vor ganz anderen Herausforderungen. Was sind gemeinsame?

Mauch: Über 758 Millionen Menschen können nicht richtig lesen und schreiben. Das ist schlicht ein Skandal. Diese Grundfertigkeiten sollten allen zur Verfügung stehen. Da tut sich auch in Deutschland und Österreich viel zu wenig. Viele Österreicher können nicht genügend lesen und schreiben. Das Problem: Analphabetismus wird oft als eine eher seltene Krankheit angesehen, die leider eher schwierig zu behandeln ist. Dem ist aber nun wirklich nicht so. Mangelnde Lese-und Schreibfähigkeiten sind weit verbreitet, auch in den Industrieländern. Man kann etwas dagegen tun! Und es sind sicherlich auch die Flüchtlinge, die aufholen müssen, aber eben nicht nur sie. Es gibt auch nicht nur den einen richtigen Weg, sondern eine Vielzahl von Möglichkeiten. Dabei gilt: Alphabetisierung ist Kontinuum mit vielen Zwischenstufen, es gilt nicht Entweder-Oder. Wie beim NQR sollten wir also stärker in Kompetenzniveaus denken. Erwachsenenalphabetisierung ist jedenfalls eine der Hauptaufgaben der nächsten Jahre für verantwortliche Bildungspolitik, in Europa, weltweit.

STANDARD: Wie gelingt sie?

Mauch: Man kann Erwachsene nur zum Lernen bewegen, indem man ihnen zeigt, was es ihnen bringt. Außerdem muss man daran ansetzen, was jemand bereits kann. Denn Erwachsene haben ja schon Erfahrungen, bringen etwas mit. Schließlich ist es auch wichtig, auf Tradition zu setzen. Wir hatten beispielsweise ein Projekt in Indien, in dem Frauen zu Handpumpenmechanikerinnen ausgebildet wurden. Sie waren dort traditionell für Wasser zuständig, deshalb hat das gut funktioniert. Zweitens wurde ihnen damit eine wichtige Rolle zugewiesen, was ihren Status erhöhte – sie mussten allerdings Lesen und Schreiben lernen, was sie bereitwillig taten. Der Clou war dann, dass sie sogar angefangen haben, sich quasi gewerkschaftlich zu organisieren. Damit war es insgesamt auch eine Frauenförderung.

STANDARD: Sie haben noch ein aktuelles Projekt: "Learning Cities". Können Sie das kurz erklären?

Mauch: Wir wollen damit das Lernen in Städten, also auf der kommunalen Ebene weiter unterstützen. Denn dort findet Lernen statt. Wir versuchen, allgemeine Bildung und Lernen im Rahmen einer kommunalen Gesamtentwicklung zu fördern, die auch im Zusammenhang nachhaltiger Entwicklung steht. Dafür haben wir das Unesco-Netzwerk "Lernende Städte" initiiert. Mittlerweile gehören über 100 Städte aus 28 Ländern dazu.

STANDARD: Gibt es eine Vorbildstadt?

Mauch: Jede Stadt ist anders, alle Städte versuchen, gute Lernbedingungen für deren Einwohner zu schaffen. Im letzten Jahr wurden zwölf Städte für die Fortschritte auf dem Weg zur lernenden Stadt ausgezeichnet, darunter Amman in Jordanien, Mexico-City und Peking in China, aber auch Bahir Dar in Äthiopien, Espoo in Finnland, oder Ybycuí in Paraguay. (Lisa Breit, 3.10.2016)