Vergewaltigung
Mithu M. Sanyal
Nautilus Flugschrift
238 Seiten, 16 €

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Welche Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit werden durch die Debatte über Vergewaltigung immer wieder erneut verfestigt?

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Mitte der 1980er Jahre, ich war Anfang zwanzig, unterhielt ich mich bei einem Klassentreffen mit einem ehemaligen Mitschüler. Ich hatte gerade meine ersten Studiensemester in Frankfurt hinter mir und dabei den Feminismus entdeckt – in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war, hatte es so etwas nicht gegeben, in der Schule natürlich auch nicht.

Mit dem Eifer einer Frischbekehrten stand ich also auf einem Balkon und erklärte diesem jungen Mann, den ich seit zehn Jahren kannte, dass alle Männer potenzielle Vergewaltiger sind. Ich kann mich noch an seinen ungläubig-entsetzt-furchtsamen Blick erinnern, mit dem er fragte: "Du meinst wirklich, jeder Mann? Auch ich?" – "Ja, auch du!" Woran ich mich auch erinnern kann, ist das Gefühl meiner eigenen Überheblichkeit, der Überheblichkeit einer Erleuchteten gegenüber denen, die noch gedanklich im finsteren Mittelalter kleben.

Narrative auf dem Prüfstand

Vergewaltigung, schreibt Mithu M. Sanyal in ihrem neuen Buch, ist das am stärksten "gegenderte" Verbrechen. Im Rahmen einer patriarchalen Ordnung war das so, in der weibliche Sexualität als passiv und männliche als aktiv definiert war. Aber es ist auch in den Erzählungen der Frauenbewegung so geblieben: Vergewaltigung gilt als "das Verbrechen des Patriarchats" schlechthin, ja sogar als das hauptsächliche Mittel, mit dem Männer Frauen in Schach halten.

Mithu M. Sanyal, die schon mit ihrem ersten Buch "Vulva" ein kulturelles Tabu bearbeitet hat (und von der auch bereits Texte veröffentlicht wurden), hat jetzt also ein zweites heißes Eisen in Angriff genommen. Dabei stellt sie vermeintlich selbstverständliche Narrative, auch feministische, auf den Prüfstand. Sie fragt: Was genau unterscheidet denn eine Vergewaltigung von einem anderen Gewaltverbrechen? Welche Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit werden durch die Debatte über Vergewaltigung immer wieder erneut verfestigt? Warum, zum Beispiel, glauben immer noch viele, eine Frau sei im öffentlichen Raum besonders gefährdet, während in Wirklichkeit das Risiko von Männern, Opfer einer Gewalttat zu werden, viel größer ist? Warum warnen wir nicht die Jungen davor, sich nachts auf die Straße zu wagen?

Aktuelle Beispiele, anhand derer sich die symbolische Ordnung heutiger Vergewaltiungsdiskurse untersuchen lässt, gibt es zur Genüge; von der erneut aufgeflammten Debatte über Roman Polanski bis zur Silvesternacht von Köln, von Gesetzesinitiativen wie "Nein heißt Nein" bis zur Anklage gegen Gina Lisa Lohfink wegen Falschbeschuldigung. Vor allem eine Vorstellung hält sich dabei hartnäckig: dass eine Vergewaltigung nicht nur den betroffenen Menschen konkret verletzt, sondern in irgend einer Weise auch die "Weiblichkeit" der Opfer beschädigt, sofern es Frauen sind.

Keine legitime Weiblichkeit

Früher war es die Ehre, die "Anständigkeit" einer Frau, von der ihre Weiblichkeit abhing und die durch eine Vergewaltigung zerstört wurde. Frauen, deren Lebenswandel bürgerlichen Normen widersprach, konnten daher in der Logik einer vorfeministischen symbolischen Ordnung qua Definition nicht vergewaltigt werden: Sie hatten ja keine Ehre, keine "legitime Weiblichkeit", die ihnen durch eine solche Tat genommen werden konnte. Dass diese Sichtweise keineswegs bloße Geschichte ist, zeigte sich in der Berichterstattung über Gina Lisa Lohfink, deren "Huren-Stigma" sowohl im Prozess als auch in dessen medialer Darstellung permanent aufgerufen wurde.

Doch auch die feministische Vorstellung, wonach Vergewaltigung ein spezieller Auswuchs des Patriarchats sei, fügt dem Angriff auf die körperliche Selbstbestimmung des Opfers sozusagen einen zusätzlichen Angriff auf dessen "Weiblichkeit" hinzu. Mitunter führt das zu Erwartungshaltungen gegenüber Betroffenen, das Erlebte auf eine bestimmte Art und Weise zu verarbeiten – zum Beispiel, wenn sie nicht genügend oder nicht richtig "leiden". Manchmal wird ihnen dann vorschnell unterstellt, etwas zu verdrängen. Und oft tut die öffentliche Empörung über eine Vergewaltigung der Betroffenen sogar deutlich mehr Gewalt an als die Tat selbst – so geschehen bei Samantha Geimer, dem Opfer im Fall Polanski.

Unabhängig vom Geschlecht

Ich habe in Sanyals Appell, das Thema Vergewaltigung nicht ständig direkt an die Kategorie Geschlecht zu binden, Parallelen zu meinen eigenen Überlegungen in Bezug auf Care gefunden. Eine Vergewaltigung ist ein Übergriff, der die sexuelle Selbstbestimmung einer Person missachtet. Und das ist so, ganz unabhängig davon, welches Geschlecht die beteiligten Personen haben. Ebenso wie Care eine Tätigkeit ist, die Menschen füreinander leisten (müssen), und zwar unabhängig von ihrem Geschlecht. Ja, es stimmt, dass derzeit in der Realität viel mehr Frauen vergewaltigt werden als Männer, und dass noch viel mehr Vergewaltigungen von Männern begangen werden als von Frauen. Genauso wie es stimmt, dass Care-Arbeit weit davon entfernt ist, "geschlechtsneutral" unter Menschen aufgeteilt zu sein.

Aber wenn wir in unserem Engagement für eine Veränderung dieser Zustände selbst immer wieder diese Verbindung aufrufen, dann ist das vielleicht genauso kontraproduktiv wie die Aufforderung: "Denk nicht an einen Elefanten!"

Achtung vor der sexuellen Selbstbestimmung

Erst wenn wir uns davon lösen, Frauen und Männer in einem bestimmten vorgefertigten Verhältnis zueinander zu sehen, sind wir frei, um darüber nachzudenken, was im Fall einer Vergewaltigung tatsächlich geschieht. Wie wir selbst das interpretieren und einordnen wollen – und zwar sowohl "wir", die wir an einer neuen, postpatriarchalen symbolischen Ordnung arbeiten, als auch "wir" im Sinne von: diejenigen von uns, die eine Vergewaltigung erlitten haben. Und wir können feststellen, dass es sich um eine vielschichtige und komplexe Angelegenheit handelt, deren Bedeutung nicht von vornherein gegeben ist, sondern die wir mit prägen. Und entsprechend sind wir mit verantwortlich für das, was dabei an Narrativen herauskommt.

Um wieder zur anfangs geschilderten Episode zu kommen: Natürlich ist so ein Satz wie "Jeder Mann ist ein potenzieller Vergewaltiger" rein logisch richtig. Aber in den meisten konkreten Situationen ist er eben auch sinnlos. Weder hilft er potenziellen Opfern, Gefahrensituationen richtig einzuschätzen, noch hilft er dabei, kulturell zu vermitteln, warum die Achtung vor der sexuellen Selbstbestimmung aller Menschen für ein gutes Leben unverzichtbar ist.

Jedenfalls hat Mithu M. Sanyal hier erneut ein weitgehend tabuisiertes Phänomen kulturwissenschaftlich durchgearbeitet. Und das ist absolut lesenswert! (Antje Schrupp, 30.9.2016)