In der Justizanstalt Göllersdorf in Niederösterreich kommen geistig abnorme Rechtsbrecher unter. Der Maßnahmenvollzug gilt als die härteste Sanktion, die das Strafrecht bietet.

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Es ist ein Begriff wie aus einem Horrorfilm: geistig abnormer Rechtsbrecher. So werden in der österreichischen Justiz Menschen bezeichnet, die laut einem Gutachten eine Straftat deshalb begangen haben, weil sie psychisch beeinträchtigt sind (siehe Wissen). Aktuell befinden sich 799 Personen im sogenannten Maßnahmenvollzug, also in gesonderten Anstalten, bei 66 Gefängnisinsassen läuft derzeit ein Verfahren auf Überstellung.

Die Zahl der Personen im Maßnahmenvollzug nimmt stetig zu: Im Jänner 2000 waren es 437, im Jänner 2015 befanden sich 779 Straftäter in "Maßnahme". Im Sicherheitsbericht des Justizministeriums wird von einem "langfristigen Trend zur Zunahme an Einweisungen" gesprochen. Das liegt unter anderem daran, dass zunehmend auch weniger schwere Delikte wie eine gefährliche Drohung Auslöser für die Unterbringung im Maßnahmenvollzug sind. Einmal drin, ist es schwer, wieder herauszukommen; es ist eine Haft ohne Limit.

Rüffel vom Menschenrechtsgericht

Großes Aufsehen erregte der Fall eines verwahrlosten Insassen im Maßnahmenvollzug der Justizanstalt Stein, den der "Falter" im Jahr 2014 aufgedeckt hatte. Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) kündigte kurz darauf an, den Maßnahmenvollzug zu reformieren, eine Reformgruppe arbeitete Empfehlungen aus. Es sollten die Hürden für eine Einweisung in den Maßnahmenvollzug erhöht werden und Insassen zunehmend Therapie statt Strafe bekommen.

Vor einem Jahr bekam die Justiz dann auch noch einen Rüffel vom Menschenrechtsgericht in Straßburg. Österreich solle künftig nur noch dann in die "Maßnahme" einweisen, wenn die Tat mit einer Strafe von mehr als drei Jahren Haft bedroht ist, so eine der Empfehlungen – derzeit reicht ein Jahr.

Reform ist ins Stocken geraten

Doch nun scheint die Liberalisierung ins Stocken geraten zu sein, manche sprechen sogar davon, dass sie völlig auf Eis gelegt werden könnte. Der Grund: Es gibt in der Öffentlichkeit nur wenig Druck für eine Lockerung, dafür umso mehr Empörung, wenn ein freigelassener psychisch kranker Häftling durch eine neuerliche Tat in die Schlagzeilen gerät. Im Justizministerium wird das auf STANDARD-Anfrage indirekt bestätigt: Ein bereits ausgearbeiteter Entwurf werde "aufgrund aktueller tragischer Ereignisse" noch einmal "überarbeitet" und "im Herbst" präsentiert – man verweist etwa auf den Mord am Wiener Brunnenmarkt im Mai.

Die Menschenrechtskonsulentin Marianne Schulze, die der Reformgruppe angehörte, hält das für "dramatisch": Es sei ein Fehler, "angesichts tagesaktueller Ängste die Erkenntnisse der letzten 30 Jahre außen vor zu lassen". Schulze fordert mehr Therapie für Insassen, gemeindenahe Unterbringungen und ein Ende des De-facto-Zwangs, bestimmte Medikamente einzunehmen. Eine Reform des Maßnahmenvollzugs, so die Juristin, dürfe zudem das Thema Prävention psychiatrischer Erkrankungen nicht aussparen, "das zeigt sich jetzt auch im Fall des Grazer Amoklaufs".

Auch mehr psychisch Kranke im Gefängnis

Auch im regulären Strafvollzug werden zunehmend Häftlinge mit psychischen Krankheiten beobachtet. "Dass die Häufigkeit von Insassen mit teilweise gravierenden psychiatrischen Problemlagen steigt, hat unter anderem damit zu tun, dass es zu einer merklichen Bettenreduktion in den Psychiatrien kam, sodass die Leute jetzt im Strafvollzug landen", sagt Michael Binder, stellvertretender Leiter der Abteilung Aufsicht und Sicherheit des Justizministeriums.

Psychische Erkrankungen stünden außerdem nicht immer mit dem Delikt in Verbindung und würden dann erst im Gefängnis erkannt. "Werden diese Menschen nicht adäquat behandelt, sind sie eine Gefahr für sich, für andere Insassen und nicht zuletzt das Strafvollzugspersonal", sagt Binder. (Katharina Mittelstaedt, Maria Sterkl, 29.9.2016)