Wiens Baustellen sind für viele Arbeiter aus (süd)osteuropäischen EU-Ländern eine lukrative Einnahmequelle – so lange sie fit und gesund bleiben.

Foto: Christian Fischer

Der Mann im Wartezimmer der Zahnärztin war nicht nur seines Äußeren wegen auffällig: die Schuhe schmutzig, die Arbeitshose ein wenig zerschlissen, die Hände abgearbeitet und müde im Schoß ruhend. Er hatte eine auffallend dicke Backe und glasig-fiebrige Augen, beim Hinsetzen schwankte er leicht. Es ging ihm nicht gut, das war deutlich zu sehen.

Als er im Behandlungsraum verschwand, konnte man das Entsetzen der Zahnärztin hören (es ist eine sehr alte, abgewohnte Ordination, die Türen sind längst nicht so schalldicht wie sie sein sollten). Der Mann, ein Bauarbeiter aus der Slowakei, wie sich später herausstellte, hatte offenbar ein schwer vereitertes Unterkiefer, drei Zähne mussten sofort gerissen werden, die Ärztin verordnete schwerste Antitbiotika. Bevor sie ihn, nach gefühlt stundenlanger Behandlung, endlich mit Kühlbeutel auf der Wange entließ, redete sie besorgt auf ihn ein: "Sie haben bestimmt Fieber. Legen Sie sich hin, machen Sie keine schwere Arbeit, bitte bleiben Sie heute zu Hause."

Krank sein geht nicht

Der Mann lächelte dünn, murmelte "kann nicht" und "Arbeit, Baustelle, 14. Bezirk", und zog mit seinem Antibiotika-Rezept davon. "Armer Kerl", murmelte die Ärztin. Dass er sich tatsächlich ausruhen würde, bezweifelte sie – obwohl sie ihn gewarnt hatte, dass große Anstrengungen in seinem geschwächten Zustand seine Herzgesundheit gefährden könnten.

Dabei war der Mann, im Vergleich zu vielen seiner Kollegen, nahezu "privilegiert": Er verfügte über eine Sozialversicherungsnummer, die ihm immerhin die Behandlung in Österreich ermöglichte.

Männer wie dieser arbeiten zu Tausenden in Österreich. Wer an einer x-beliebigen Großbaustelle, etwa in Wien, vorbei geht, sieht und hört das. Viele tragen T-Shirts mit den Namen ungarischer, slowakischer, tschechischer oder auch polnischer Firmen.

Falsche Richtung

Die Frauen aus dem EU-Ausland findet man vor allem im Pflegebereich – wo sie, weil preisgünstig und rund um die Uhr im Einsatz, gerne geduldet werden. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen – und die Abwehrschlachten, die die Gewerkschaft führt, gehen auch oft in die falsche Richtung.

Das Empörende ist nicht, dass hier (EU-)"Ausländer" inländischen Arbeitskräften vorgezogen werden. Die Personenfreizügigkeit ist Teil des EU-Vertragswerks, wer Mitglied im "Klub" ist, hat das unterschrieben – und gewusst, worauf er sich einlässt. Österreich briet ohnehin jahrelang seine Übergangsregelungs-Extrawürste, aber nun ist es Realität: Während (gut ausgebildete) Österreicher schrankenlos in anderen EU-Staaten arbeiten dürfen, gibt es ausländische Konkurrenz auf dem Niedriglohnsektor. Das Problem dabei ist, dass es innerhalb der Union noch immer keine einheitlichen Sozialstandards gibt.

Schnell ersetzt

Im Falle des Bauarbeiters aus der Slowakei bedeutet das, dass er, angeheuert für diesen einen bestimmten Auftrag im 14. Wiener Gemeindebezirk, nicht leisten kann, auch nur einen Tag krankheitsbedingt zu fehlen. Weil das bedeuten würde, dass er schneller als er gesundet durch einen anderen, willigen, fitteren Kollegen ersetzt würde.

Anhänger des Marktliberalismus argumentieren, dass sich die Rechnung für die (obendrein schlechter bezahlten) Arbeitskräfte aus den osteuropäischen Ländern ja ausgehe – weil sie immer noch mehr verdienten als "zu Hause". Das stimmt nur bedingt – so lange die Menschen eben fit und leistungsfähig bleiben. Zeigen sich erste Verschleißerscheinungen, wird es zumeist bitter für die Betroffenen.

Alles verloren

Eine bulgarische Regierungsbeauftragte zur Bekämpfung von Menschenhandel wusste dem STANDARD vor einem Jahr am Rande einer Konferenz in Bukarest Schauerliches zu berichten: Dass sich viele schlecht ausgebildete Männer für scheinbar lukrative Aufträge von Landsmännern im Mercedes anwerben lassen, dann, angestellt von windigen Firmen, die wiederum Sub-Auftragnehmer von Sub-Auftragnehmern österreichischer Unternehmen sind, oft um mehr als die Hälfte ihres Lohns umfallen, weil besagte Firmen in Windeseile in Konkurs gehen – ehe es zum Zahltag kommt. Diese Männer, sagte die Expertin, verlören dann oft auch ihr Zuhause, ihre Familien – und ihren Rückhalt in der Gemeinschaft daheim.

Wenn nun der Ökonom Achim Truger im Gespräch mit dem STANDARD fordert, der Staat solle mehr Geld für Straßen, Gebäude und Bildung ausgeben, so sollte sich gleich die Forderung anschließen, dass bei den Ausgaben für die ersten beiden Bereiche darauf geachtet wird, dass es nicht zu Lohn- und Sozialdumping kommt.

Im Sinne künftiger Generationen

Truger argumentiert sehr stark in Richtung "Generationengerechtigkeit": Was heute investiert werde, bringe zukünftigen Generationen einen höheren Wohlstand. Das wird auf Dauer aber wohl nur funktionieren, wenn sich die EU-Mitglieder um länderübergreifende Gerechtigkeit bemühen: in Lohn- , in Sozial- und in arbeitsrechtlichen Fragen.

Das wird natürlich nicht nur in eine Richtung gehen können – also ein Mehr an Schutz und Regulierung, da werden auch vom hiesigen hohen Niveau Abstriche gemacht werden. Angleichung heißt nun einmal, dass beide Seiten aufeinander zugehen. Hier sind gerade die Interessensvertretungen, vor allem die Gewerkschaften, sehr gefragt: Flexibilität im Denken, ein positives (nicht abwehrendes) Zugehen auf Veränderungen, letztlich Beweglichkeit und Modernität sind gefragt. Das wird nicht leicht sein und auch nicht ohne Schmerzen abgehen. Aber wenn die europäische Union auf Dauer als politische-, Wirtschafts- und letztlich auch soziale Union funktionieren soll, gibt es keine Alternative. (Petra Stuiber, 30.9.2016)