Als Chruschtschow in seiner "Geheimrede" am 20. Parteitag der KPdSU 1956 die Verbrechen Stalins anprangerte, erschütterte er nicht nur die kommunistische Herrschaft in Osteuropa. Er weckte auch die Hoffnung in Teilen der westeuropäischen Linken, ein besserer Kommunismus sei möglich. Die 68er-Bewegung und das relativ friedliche Ende des Kommunismus in Osteuropa und der UdSSR 1989/1991 trugen weiter dazu bei, hierzulande das Bild des Linksextremismus zu entspannen.
Es ist aber problematisch, wenn einer der Hauptverantwortlichen kommunistischer Massenverbrechen zum harmlos-freundlichen Protagonisten von Anekdoten trivialisiert wird wie in Kurt Palms "Essay" über die Frage, wo Stalin im Laufe seines Wien-Aufenthalts 1913 Lebensmittel einkaufte (der STANDARD, 27. August). Zweck des Besuches war, für das Werk "Marxismus und nationale Frage" zu recherchieren, das laut Palm "eine entscheidende Rolle bei der Lösung der Nationalitätenfrage" spielte. Damit ist das historische Ereignis auch schon abgehandelt. Dass Stalins "Lösung der Nationalitätenfrage" Millionen Zwangsumsiedelungen und hunderttausende Todesopfer bewirkte, bleibt unerwähnt. Ebenso der Umstand, dass die in Stalins Werk genannten Prinzipien (Selbstbestimmung, Gebietsautonomie, Gleichberechtigung) später von ihm mit Füßen getreten wurden.
Nachdem die Sowjetunion in den 1920er-Jahren die nichtrussischen Nationalitäten durch die Förderung ihrer Kulturen und Eliten zu gewinnen versucht hatte, vollzog Stalin eine Kehrtwende: Schulen in den Minderheitensprachen wurden reduziert, Zentralisierung und Russifizierung verstärkt. Zu Stalins Beiträgen zur "Lösung der Nationalitätenfrage" zählt auch die Deportation tausender Polen, Deutscher, Finnen, Koreaner, Balten und Angehöriger von Turkvölkern – jeweils Männer, Frauen und Kinder nach Sibirien und Zentralasien. Bis 1937 waren es laut den Historikern Victor Dönninghaus und Dietmar Neutatz etwa 260.000. Die Zahl der in den späten 1930er-Jahren von Stalin "aufgrund ihrer Nationalität verhafteten, deportierten und exekutierten Menschen" wird auf weitere 800.000 geschätzt.
Nach der Besetzung Polens 1939 ließ Stalin von dort etwa 325.000 Menschen deportieren, nach dem Überfall auf Finnland circa 89.000 Finnen. 1941/42 waren ungefähr 1,2 Millionen betroffen, davon über 900.000 Deutsche. 1943/44 wurden Angehörige weiterer als "unzuverlässig" bezeichneter Volksgruppen deportiert – über 500.000 Tschetschenen und Inguschen, Krimtataren usw. Die Todesrate lag im Durchschnitt bei 30 Prozent. Der Historiker Philipp Ther hat eine Gesamtzahl von etwa 2,5 Millionen Vertriebenen von 1935 bis 1948 errechnet. Aber offenbar erscheinen Palm diese Menschen oder die zehn bis 20 Millionen Todesopfer des Stalinismus weniger erwähnenswert, als dass Stalin für ein kleines Mädchen "oft Bonbons gekauft hat".
Wer in die Hände des NKGB oder NKWD fiel, brauchte sich beim Verhör keine Hoffnungen auf das von Palm in einem zeitgenössischen Wiener Inserat aufgespürte "Zahnziehen (schmerzlos)" zu machen: Die Zähne wurden vielen Opfern schmerzvoll ausgeschlagen. Es ist auch nicht beruhigend, dass Stalin den US-Schauspieler John Wayne doch nicht ermorden lassen wollte, wie Palm berichtet. Andere Bühnenstars wie Solomon Michoels hatten dieses Glück nicht; der Vertreter des jiddischen Theaters wurde 1948 mit Stalins Billigung ermordet. Zigtausend jüdische Sowjetbürger wurden diskriminiert, inhaftiert und hingerichtet.
Stalins Auseinandersetzung mit der Nationalitätenfrage besaß "eminent historische Bedeutung", wie Palm schreibt – was die erwähnte, 1949 in Meidling auf Initiative der KPÖ errichtete Stalin-Gedenktafel aber nicht widerspiegelt. Es trifft zu, dass Österreich durch den Staatsvertrag von 1955 verpflichtet ist, Kriegsgräber zu erhalten; desgleichen "Denkmäler, die dem militärischen Ruhm der Armeen gewidmet sind, die auf österreichischem Staatsgebiet gegen Hitler-Deutschland gekämpft haben". Auf die Stalin-Tafel kann man das wohl kaum beziehen.
Stalins Nationalitätenpolitik hatte somit tiefergehende Konsequenzen, als man Palms Plaudereien entnehmen kann. Es ist legitim, Anekdotisches über ihre Entstehung zu schreiben. Dass man dabei Folgen und Opfer mit keinem Wort erwähnt, ist es nicht. (Wolfgang Mueller, 27.9.2016)