Regisseurin Alia Luque interessiert sich in einem Text für eine Sprache, die ihr mehr als nur den Plot eröffnet. Diese findet sie bei Ödön von Horváth, Neil LaBute – und jetzt bei Franz Grillparzer.

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STANDARD: Sie lieben die deutsche Sprache, las ich. Warum? Sie enthält viele Konsonanten, klingt hart.

Luque: Als Spanierin finde ich die deutsche Sprache sehr weich. Das Spanische hat wesentlich mehr Stakkato, aber mir geht es nicht um die Phonetik. Das Schöne am Deutschen sind die vielen Nuancen, die Differenziertheit der Begriffe und die Möglichkeit, dadurch Pauschalisierungen zu vermeiden. Keine andere Sprache kann menschliche Affekte so gut in Worten ausdrücken.

STANDARD: Ein Beispiel?

Luque: Um im Spanisch einen gewissen Grad von Wut zu benennen, gibt es salopp gesagt die Optionen: wütend, sehr wütend, leicht wütend. Während im Deutschen Begriffe wie verstimmt, missmutig, verärgert, erzürnt, aufgebracht, zornig usw. zur Verfügung stehen. Oder "man", den Begriff gibt es ja, soweit ich weiß, in keiner anderen Sprache. Heidegger hat einen ganzen Absatz zu diesem Begriff geschrieben. Das, was "man" impliziert, kann "man" im Spanischen also nicht denken. Das ist es, was Wittgenstein meint mit "Die Grenzen meine Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt". Dieser Abstraktionsgrad des Deutschen fasziniert mich.

STANDARD: Meinen Sie also die Komplexität?

Luque: Je komplexer eine Sprache ist, umso mehr erweitert sie meine Betrachtung der Welt, indem sie mir ermöglicht, über das hinauszudenken, was uns die Realität zu bieten hat. Vielleicht ist es ja deswegen so, dass die bedeutendste Philosophie der Moderne auf Deutsch geschrieben wurde. Außerdem liebe ich typisch deutsche Wortkreationen wie "Willenskraft", "Sehnsucht" oder "Heimweh". Also wenn aus zwei Begriffen ein dritter mit eigenständiger Bedeutung entsteht.

STANDARD: Wie sieht die Theaterszene in Spanien aus?

Luque: Die institutionalisierten Bühnen sind dort ziemlich konventionell, da werden klassische Stoffe eher im Sinne eines Kanons behandelt und nicht, um damit etwas zu hinterfragen. Ich habe bemerkt, dass das Theater hier ganz anders in einen gesellschaftlichen und künstlerischen Diskurs eingebunden ist. In Spanien sieht man sich einmal Antigone an und dann nie wieder, weil man ja schon weiß, wie's ausgeht. Man stellt sich hier viel mehr die Frage, wofür man Theater macht. Und genau das ist das Wertvolle im deutschsprachigen Raum, der Kulturauftrag, der an das Theater herangetragen wird. Allerdings gibt es in Spanien eine große freie Szene, die spannend ist, weil sie völlig unabhängig arbeitet.

STANDARD: Neil LaBute, Miroslava Svolikova, jetzt Franz Grillparzer – das sind sehr unterschiedliche Autoren. Wie suchen Sie als Regisseurin die Texte aus?

Luque: Mein Auswahlkriterium ist vor allem die Sprache. Ich entscheide mich nicht für ein Stück, weil ein Thema aktuell ist oder weil ein Autor angesagt ist. Mich interessiert eine Sprache, die mir Räume eröffnet, also mehr als nur den Plot erschließt. Im Spanischen bin ich viel kulanter mit der Sprache, im Deutschen streng.

STANDARD: Vermutlich sind Sie mit dem Deutschen strenger, weil es Ihre Berufssprache ist?

Luque: Kann sein. Ich bin als Regisseurin, vielleicht weil Deutsch nicht meine Muttersprache ist, als Erstes auf die Sprache eines Autors angewiesen. Ich muss immer bestimmte Formulierungen hinterfragen und die Anfertigung der Gedanken hinter der Grammatik eruieren und überprüfen.

STANDARD: Hat Sie die lyrische Sprache in Grillparzers "Das goldene Vlies" angesprochen?

Luque: Auf jeden Fall. Es ist eine Sprache, bei der das Publikum aktiv zuhören muss. Grillparzer ist für mich eine Entdeckung, so wie es Horváth war. Ich merke, wie viel Wucht seine Sätze haben, die aus dem Biedermeier hinausschießen. Die Sprache ist lyrisch, aber keineswegs blumig.

STANDARD: Gehen Sie an Grillparzer anders heran als an Svolikova?

Luque: Eigentlich nicht, denn ich verfolge keine ästhetische Handschrift oder ein formales Credo. Die Sprache gibt den Weg vor.

STANDARD: Warum haben Sie sich gleich alle drei Teile vorgenommen und nicht nur "Medea"?

Luque: Indem man alle drei Teile aneinandersetzt, geht es um mehr als nur um die Liebesgeschichte zwischen Medea und Jason, sondern es eröffnet sich der Blick auf ein System von Schuld und Macht. Das möchte ich jedenfalls zeigen. Grillparzer hat sich die Mühe gemacht, zwei Akte vor Medea zu setzen, die die gewachsenen Strukturen sichtbar machen. Deshalb haben wir auch entschieden, dass die Schauspieler von einem Akt zum nächsten andere Figuren übernehmen, d. h. die Leichen, die Medea hinterlässt, kehren in neuen Absichten wieder; das System bleibt bestehen.

STANDARD: Wo beginnt denn dann die Schuld beim "Vlies"?

Luque: Ja, das ist die große Frage. Beginnt sie damit, dass Phryxus das Vlies raubt, oder begann sie schon, als Phryxus von seinem Vater aus dem Haus gejagt wurde? Man kann wohl nur darüber erzählen, wo bei jeder Figur die jeweilige Schuld beginnt.

STANDARD: Medea wurde als die Kindsmörderin kanonisiert ...

Luque: ... während ein Richard III. es nicht wurde. Man spricht nicht vom Richard-Komplex, sondern vom Medea-Komplex. Das sagt viel aus. Unsere Gesellschaft will sich eine Mutter nicht in der Rolle einer sozialen Grenzgängerin vorstellen. Aber die Literatur denkt diese Möglichkeit.

STANDARD: Sie haben vorher Horváth erwähnt. Er ist international doch wenig rezipiert.

Luque: Ja, leider! Er ist international maßlos unterschätzt. Horváth ist, einmal befreit von den Schlacken der Volksstücktradition, ein Schriftsteller von faszinierender Künstlichkeit. Man könnte ihn eins zu eins mit Lorca vergleichen. (Margarete Affenzeller, 27.9.2016)