Anna Nemzowa sagt, dass es zwei parallele Realitäten in der Berichterstattung russischer Medien gibt.

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"Es gibt einen kleinen Teil, der Onlinemedien konsumiert und das russische Staatsfernsehen als Propaganda der Regierung sieht", sagt Nemzowa über Putins Russland.

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STANDARD: Vergangene Woche wurde in Russland ein neues Parlament gewählt, die Kremlpartei Einiges Russland konnte sich eine Dreiviertelmehrheit sichern. Wie haben Sie die Berichterstattung im Wahlkampf erlebt? Wurde der Opposition im Staatsfernsehen Raum gegeben?

Nemzowa: In den vergangenen zehn Jahren hatte die Opposition keinen Zugang zu russischen Mainstreammedien, die ja vom Staat kontrolliert werden. Die Politiker, die an den TV-Diskussionen teilnahmen, stammten hauptsächlich von der Regierungspartei Einiges Russland und kremlnahen Parteien wie Gerechtes Russland, LDPR, Rodina oder der Kommunistischen Partei, aber selten von richtigen Oppositionsparteien wie Parnas oder Jabloko. Das ist schade, da einige Oppositionspolitiker sehr professionell sind und die Diskussionen interessanter machen könnten. Mir ist auch nicht ganz klar, warum die Opposition dermaßen eingeschränkt wird, schließlich ist sie derzeit sehr schwach, ihre Beliebtheitswerte niedrig. Durch den Druck auf die Opposition verwehrt die russische Regierung der Gesellschaft die Luft, die sie zum Atmen braucht, und enttäuscht jene Menschen, die die Opposition immer noch unterstützen.

STANDARD: Die Opposition konnte bei der Wahl jedenfalls kein Mandat erlangen. Konnten Sie dennoch Unterschiede zu früheren Wahlen erkennen?

Nemzowa: Der Unterschied zu früheren Wahlen bestand lediglich darin, dass die Opposition selbst ihre Fehler eingestanden hat. Sie hat es nicht geschafft, die Wähler zu erreichen, und erkannt, dass etwas grundlegend falsch läuft: Es gibt zu viele Oppositionsparteien und keine einheitliche Linie. Die Opposition braucht einen starken gemeinsamen Kandidaten, der all diese Parteien eint. Das ist jedoch nicht das, was mir Sorgen bereitet. Vielmehr hat mich bei dieser Wahl der durchschlagende Erfolg von Wladimir Schirinowskis ultranationalistischer LDPR erschreckt. Lange Zeit wurde er als der russische Donald Trump gesehen, als ein Clown. Bei dieser Wahl konnte er mit seinem populistischen Wahlprogramm – er plakatierte Slogans wie "Kehren wir zu den Grenzen der UdSSR zurück" – viele Wähler für sich gewinnen.

STANDARD: Wie nach der Parlamentswahl 2011 kursierten auch diesmal zahlreiche Videos über Wahlfälschungen in sozialen Medien. Wie wurde darüber in staatlichen Medien berichtet?

Nemzowa: All jene Kritikpunkte, die Ella Pamfilowa, die Leiterin der Wahlkommission, genannt hat, wurden auch im Fernsehen gezeigt. Es wurde von jenen Regionen berichtet, in denen offensichtliche Unregelmäßigkeiten stattgefunden haben. Von diesen Fällen hat man aber nur durch Videokameras und Wahlbeobachter erfahren. Wenn den Wahlbeobachtern der Zugang verwehrt wird, wie in St. Petersburg, kann man natürlich auch nicht berichten. Dort hatten Wahlbeobachter beispielsweise keinen Zugang zu dem Raum, in dem die Stimmen ausgezählt wurden. Ich glaube aber nicht, dass das Ergebnis mit Wahlfälschungen zusammenhängt. Die Zustimmung für Putin ist echt und liegt konstant bei 83 Prozent, das zeigten auch Umfragen von unabhängigen Meinungsforschungsinstituten wie dem Lewada-Zentrum.

STANDARD: Der Einfluss staatlicher TV-Sender auf die Gesellschaft ist nach wie vor groß. Das Lewada-Zentrum hat bei einer Umfrage im Jahr 2015 festgestellt, dass unabhängige Medien nur zehn bis 15 Prozent der Russen erreichen. Konnten Sie zuletzt eine Veränderung in der Medienlandschaft feststellen?

Nemzowa: Die Mehrheit der Russen bezieht ihre Informationen nach wie vor aus dem Fernsehen. Darüber gibt es zahlreiche Studien. Es gibt einen kleinen Teil, der Onlinemedien konsumiert und das russische Staatsfernsehen als Propaganda der Regierung sieht. Es gibt zwar zahlreiche kleine neue Onlinemedien, aber in vielen Regionen dominiert nach wie vor der Staat. Die Mainstreammedien dort gehören zur Regierung. Journalisten können es sich demnach nicht erlauben, Kritik an der Regierung zu üben, sie werden schließlich von ihr finanziert. Aber um die rund 83 Prozent der Russen zu verstehen, die die Politik von Präsident Putin unterstützen, sollte man sich als unabhängige Journalistin auch diese Medien ansehen. Unabhängige Medien wie "Echo Moskwy" und "Nowaja Gaseta" haben schließlich auch ihren eigenen Zugang und berichten oft nur einseitig, weshalb es wichtig ist, sich beide Seiten anzusehen. Es gibt zwei parallele Realitäten. Einerseits zeichnet der Staat im Fernsehen immer das gleiche Bild: Der Westen ist gegen uns und bedroht uns. Unabhängige Medien berichten hingegen nie Positives über die Regierung Putins. Somit leben die Menschen, die diese Medien konsumieren, auch in ihrer Blase.

STANDARD: Auch in Europa wird klassischen Medien vorgeworfen, nicht unabhängig zu berichten, weshalb teilweise staatsnahe russische Medien wie RT und Sputnik, die auch auf Deutsch, Englisch und Französisch abrufbar sind, in Teilen Europas als Alternative gesehen werden. Welchen Eindruck haben Sie als in Russland tätige Journalistin von diesen Medien?

Nemzowa: Diese Medien betreiben keinen echten Journalismus. Sie sind Soldaten, die nicht unbedingt für die Zukunft Russlands kämpfen, sondern dafür, dass die Politik von heute so bleibt, wie sie jetzt ist. Sie bekommen Aufgaben und Befehle und tun, was ihnen gesagt wird. Ich glaube, dass Journalisten in der "Prawda", der Zeitung der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, mehr Freiheit hatten als diese Journalisten, denen konstant vorgegeben wird, worüber geschrieben werden soll. Damals gab es zwar eine sehr harte Zensur, sodass am Ende oft nichts mehr vom ursprünglichen Artikel geblieben ist, aber die Journalisten haben versucht, das Beste daraus zu machen und ihren Beruf so gut wie möglich auszuüben.

STANDARD: Russland wählt 2018 einen neuen Präsidenten. Es wird angenommen, dass Putin wieder antreten wird. Gibt es, sollte das nicht der Fall sein, einen potenziellen Nachfolger?

Nemzowa: Natürlich, es gibt immer Medwedew, er ist der Nachfolger Nummer eins. Dann wären da noch Sergej Schoigu und Alexej Kudrin vom liberalen Flügel von Einiges Russland (Schoigu ist seit 2012 Verteidigungsminister, Kudrin ist im Wirtschaftsrat der Russischen Föderation, Anm.). Nach 16 Jahren Putin, einer Zeit, in der den Russen eingetrichtert wurde, dass sie sich zurücklehnen können und nicht nachdenken müssen, dachte aber niemand an einen Nachfolger – Putin ist ja da, er wird schon alles richten. (Christopher Rindhauser, Judith Moser, 29.9.2016)