"London Calling" hat jemand in großen roten Lettern an die Unterführung des Hafenzubringers gemalt. Der legendäre Rocksong ist hier Programm: Tausende von Flüchtlingen warten auf das Übersetzen ins gelobte England. Sie klettern nachts die Böschung hoch und springen auf die Sattelschlepper, die vom Fährhafen nach England übersetzen.

Khalid versucht es seit mehreren Monaten – jede Nacht. Der schüchterne 27-jährige Sudanese wirkt nicht gerade wie ein Stuntman, der auf fahrende Lastwagen hechtet. Bei der Durchquerung der Sahara und des Mittelmeers hat er allerdings schon gefährlichere Momente erlebt, wie seinem Bericht zu entnehmen ist.

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Rund 10.000 Menschen sollen im Moment im Flüchtlingslager von Calais leben.
Foto: REUTERS/Pascal Rossignol

70 Flüchtlinge pro Nacht

Sebjallah, ein Offizier der afghanischen Armee, der sein Land vor einem Jahr verlassen hat, als die Taliban seiner Familie mit dem Tod drohten, wirkt athletisch genug für den "Nachteinsatz", wie er sagt. Doch er hat seine Frau und seine zwei Söhne, sechs und acht Jahre, bei sich und sitzt mit ihnen seit mehr als zehn Monaten im "Dschungel" fest. Ihre Mutter Chajol überspielt die Ermüdung mit betontem Optimismus: "Heute Nacht wollen wir es zusammen mit vier anderen Leuten versuchen. Wir haben keine Wahl, wir können den Kindern keinen zweiten Winter in einem kalten und nassen Zelt zumuten."

Jede Nacht schaffen es bis zu 70 Flüchtlinge über den Kanal. Das ist an sich verwunderlich: Die Laster werden in dem stacheldrahtgesicherten Fährhafen mit Scannern, CO2-Detektoren und Hunden durchsucht. Bleibt der "menschliche Faktor", wie Nathalie sagt. Oft ist Geld im Spiel. Für 15.000 US-Dollar, im Voraus aus dem Ursprungsland überwiesen, organisiert die Schleppermafia eine Deluxe-Überfahrt.

Die meisten müssen sich mit einem Bruchteil durchschlagen. Wer gar kein Geld hat, riskiert Knüppelschläge, wenn er auch nur am Rande der Autobahn auftaucht, um einen Laster zu entern: Die günstigen "Aufspringorte" werden von Banden kontrolliert und kosten 100 Euro. In der Nacht auf Freitag ist erneut ein 20-jähriger Flüchtling beim Sprung auf einen Lastwagen gestorben. Das zwölfte Todesopfer seit Jahresbeginn trug keine Papiere bei sich.

Eine Mauer soll in einigen Wochen zusätzlich zum Stacheldraht die Flucht nach England verhindern.
Foto: APA/AFP/PHILIPPE HUGUEN

2,7-Millionen-Euro-Mauer

Jetzt soll aber Schluss sein mit dieser menschenunwürdigen Stausituation am Ärmelkanal, die wegen der unterschiedlichen Asylpolitik der EU-Länder entsteht. Die Briten, die seit dem Brexit einen härteren Kurs in Sachen Immigration fahren, wollen die letzten Schlupflöcher in Calais stopfen. Mit 2,7 Millionen Euro finanzieren sie den Bau einer vier Meter hohen Betonmauer entlang des Autobahnzubringers von Calais. Sie soll in einigen Wochen jeden Zugang aus dem "Dschungel" verhindern. Der Bau hat vergangene Woche begonnen.

Für Nathalie Boidin ist das "pure Augenauswischerei". Das nächtliche Geschehen werde sich ganz einfach aus Calais verlagern: "Glauben Sie mir, wer in der Lage ist, sechs Tage fast ohne Unterbrechung zu marschieren, davon zwei Tage ohne Essen und Trinken, hat genug Drang und Energie, um eine einen Kilometer lange Mauer zu umgehen."

Hollande will Schließung

Die Regierung in Paris schweigt betreten zu diesem britischen Limes auf französischem Boden. Präsident François Hollande hat anderes vor: Er will das Flüchtlingslager bis Ende des Jahres ganz schließen, wie er am Montag bei einem Besuch in Calais bestätigt hat.

Im kommenden Frühjahr sind Präsidentschaftswahlen. Der "Dschungel" ist im ganzen Land berüchtigt. In Calais haben Gewerbetreibende und Transporteure kürzlich für die Räumung demonstriert. Anwohner sagen, sie hätten "die Nase voll", auch wenn sie im Stadtzentrum kaum je Migranten kreuzen.

Hollande plant die Räumung offenbar für Oktober. Im Februar hatte er bereits den Südteil des Lagers schleifen lassen. Auf dem weiten Feld, wo Dünengras über toten Ratten wächst, ist nur eine Barackenkirche orthodoxer Äthiopier stehengeblieben.

Das windschiefe Gotteshaus mit Lotterkreuz wirkt wie ein Mahnmal menschlichen Elends und Widersinns. Widersinn auch deshalb, weil sich die "Dschungel"-Bevölkerung nach der Räumung nicht halbiert, sondern verdoppelt hat. Von 4500 im Frühsommer ist sie laut Hilfswerken seit August auf 10.000 Bewohner gestiegen.

Präsident François Hollande besuchte am Montag Calais – aber nicht den "Dschungel".
Foto: APA/AFP/PHILIPPE HUGUEN

Barackensiedlung mit Kleinläden

So drängen sich im Nordteil des "Dschungels" heute mehr Flüchtlinge und Migranten denn je. Zwischen den Zelten gibt es kaum mehr Platz. Noch gesuchter sind die Wohncontainer, die von der Regierung im März für 1500 Familien und fragile Personen errichtet wurden. Tausend Frauen und Kinder sind in einem Saalgebäude getrennt untergebracht.

Der "Dschungel" lebt wie ein richtiges "Bidonville", eine Barackensiedlung mit Strom, Wasser und Toiletten. Die Geschäfte und Restaurants sind zwar polizeilich geschlossen, werden aber neuerdings wieder stillschweigend toleriert, da ein Rekurs beim Staatsrat in Paris hängig ist. "Wie will die Regierung das Lager schleifen, wenn sie es nicht einmal schafft, die Kleinläden zu unterbinden?", fragt sich Salomé.

Der ehemalige technische Direktor bei Eurotunnel hatte das Ärmelkanal-Bahnunternehmen vor Jahren verlassen, um eine Essensausgabe für Flüchtlinge zu organisieren. Heute ist die "Auberge" ein sehr aktives Hilfswerk mit vier Angestellten. Wie alle Einwohner von Calais würde es Salomé begrüßen, wenn das unwürdige Lager geschlossen würde. Aber er glaubt nicht daran. "Etwa die Hälfte der Flüchtlinge und Migranten scheint heute zwar bereit zu sein, ein Asylgesuch in Frankreich zu stellen. Die andere Hälfte, also fast 5000 Leute, würde es aber einfach von einer anderen Stelle aus versuchen. Die Kanalküste von der Bretagne bis nach Belgien würde von ihnen überschwemmt."

Mehr Plätze in Frankreich

Genau das war 2002 passiert, als Sarkozy das Lager in Sangatte geschlossen hatte. Der sozialistische Innenminister Bernard Cazeneuve will es nun besser machen: Er plant in ganz Frankreich neue Aufnahmezentren mit bis zu 12.000 Plätzen. Alle Regionen bis nach Südfrankreich sollen dazu beitragen, Calais-Flüchtlinge aufzunehmen. Die betroffenen Anwohner wehren sich aber überall mit Petitionen und Protestmärschen dagegen, wobei sie von politischen Parteien wie dem Front National unterstützt werden.

Die konservative Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, zweifelt an der Umsetzung des Plans – und an der Bereitschaft der Flüchtlinge, auf ihr britisches Eldorado zu verzichten. Skeptisch fragt sie: "Wenn der 'Dschungel' verschwinden soll – warum bauen die Briten dann nebenan eine Mauer?" (Stefan Brändle aus Calais, 26.9.2016)