Jeremy Corbyn will als Parteichef in Gesprächen mit den Wählerinnen und Wählern überzeugen. Dass er eine ausreichende Zahl von ihnen erreicht, gilt nicht als ausgemacht.

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Ausgerechnet Liverpool. In der nordwestenglischen Hafenstadt tagt von diesem Wochenende an der alljährliche Parteikongress der britischen Labour-Partei. Die Welt kennt Liverpool vor allem als Heimat der Beatles. Auf der Insel assoziieren sie viele vor allem mit militanten Gewerkschaftlern und linksradikalen Besserwissern.

Das passt zunehmend zum Image der alten Arbeiterpartei. An diesem Samstag wird erst einmal das Ergebnis der Urwahl zum Vorsitzenden bekanntgegeben. Spekuliert wurde vorab nur über die Höhe des Ergebnisses für Amtsinhaber Jeremy Corbyn, nicht über dessen Chancen auf den Sieg.

Mitteleuropas größte Sozialdemokraten

Gut 16 Monate nach der schlimmen Niederlage bei der jüngsten Unterhauswahl (30,4 Prozent), gut ein Jahr nach Corbyns Amtsantritt, ist die Partei nicht wiederzuerkennen. Das hat mit einem vordergründig positiven Effekt zu tun: Immerhin 647.000 Briten waren bei der Urwahl stimmberechtigt, viele sind erst jüngst beigetreten. Weit vor Deutschlands SPD oder den französischen Sozialisten ist Labour die größte politische Bewegung Westeuropas.

Er habe bei seinen Auftritten im ganzen Land viele neue Anhänger getroffen, schwärmt der Chef. Mit diesen Menschen lasse sich in vielen Gemeinden ein Dialog mit der Bevölkerung beginnen, die geleistete Überzeugungsarbeit werde dann in Wahlstimmen münden.

Altgediente Mitglieder sind weniger optimistisch. Ihrer Erfahrung nach gehen die häufig jungen, in Großstädten wohnenden Corbyn-Anhänger zwar gern zu Versammlungen mit Gleichgesinnten, scheuen aber die Konfrontation mit dem unpolitischen, häufig feindseligen Wahlvolk.

Heftige Flügelkämpfe

Stattdessen denken sie laut über die Disziplinierung der Unterhausfraktion nach. Kurz nach dem verlorenen Brexit-Votum im Juni traten fast alle erfahrenen Parlamentarier aus dem sogenannten Schattenkabinett aus, 80 Prozent der Fraktion sprach dem Chef das Misstrauen aus. Begründung: Corbyn tauge weder zum Oppositionsführer noch zum Premier.

Seither machen die linken Parteiaktivisten vor niemandem halt, den sie des Kompromisslertums verdächtigen. "Blairisten" lautet das Schimpfwort. Es bezeichnet den einzigen Labour-Chef, unter dessen Führung die Sozialdemokraten je drei Wahlen in Folge gewinnen konnten.

Ein weiterer Demokratisierungsschritt

Corbyn wünscht sich "die Demokratisierung unseres Landes". Dazu gehören Forderungen wie die Umwandlung des Oberhauses in eine gewählte Kammer, Volksabstimmungen auf lokaler Ebene, mehr Rechte für Gewerkschaftler sowie ein "Bürgerrecht" zur Opposition gegen Sparmaßnahmen. Die Atomwaffen will der Pazifist abrüsten, die britische Nato-Mitgliedschaft infrage stellen.

Gäbe es ein Verhältniswahlrecht, könnte es sich Corbyns Koalition aus Altlinken und jungen Idealisten in der Nische bequem machen. Zehn, vielleicht fünfzehn Prozent der Wählerstimmen lassen sich allemal gewinnen. Im Mehrheitswahlrecht geht das nicht, was der Demokratie Probleme bereiten könnte: Die kaum Kompetenz ausstrahlende Tory-Regierung von Theresa May hat vorerst nur Labour als landesweite Opposition – oder sie hat keine Opposition. (Sebastian Borger aus London, 24.9.2016)