Die Flüchtlingskrise in Europa drängte die EU bereits in Richtung Zerfall, bevor sie am 23. Juni dazu beitrug, die Briten zu ihrem Votum für den Austritt aus der EU zu bewegen. Die Krise und die von ihr ausgelöste Brexit-Tragödie haben fremdenfeindliche, nationalistische Bewegungen gestärkt, die nun danach streben werden, eine Reihe anstehender Wahlen zu gewinnen, darunter die nationalen Wahlen in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland im kommenden Jahr, ein Referendum in Ungarn über die EU-Flüchtlingspolitik am 2. Oktober und die Wiederholung der österreichischen Präsidentschaftswahl am 4. Dezember.

Statt den Schulterschluss zu üben, um dieser Bedrohung zu begegnen, sind die EU-Staaten immer weniger bereit, zu kooperieren. Indem sie etwa Grenzzäune errichten, verfolgen sie eine eigennützige Migrationspolitik zulasten ihrer Nachbarn, die die EU weiter spaltet, den Mitgliedstaaten schadet und globale Menschenrechtsstandards untergräbt.

Die aktuelle unsystematische Reaktion auf die Flüchtlingskrise, die in dem zwischen der EU und der Türkei geschlossenen Abkommen zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms aus dem östlichen Mittelmeer kulminierte, leidet unter vier grundlegenden Mängeln. Erstens ist sie kein echtes europäisches Abkommen; die Einigung mit der Türkei wurde von Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgehandelt und durchgesetzt. Zweitens ist sie stark unterfinanziert. Drittens hat sie Griechenland in ein faktisches Auffanglager mit unzureichenden Einrichtungen verwandelt.

Vor allem aber ist die Reaktion nicht freiwillig. Die EU versucht, Quoten durchzusetzen, denen sich viele Mitgliedstaaten energisch widersetzen, zwingt die Flüchtlinge, sich in Ländern anzusiedeln, in denen sie nicht willkommen sind und wo sie nicht hinwollen, und schickt andere in die Türkei zurück. Dies ist bedauernswert, denn die EU kann ohne eine umfassende Asyl- und Migrationspolitik nicht überleben. Wie würde eine solche aussehen? Egal, wie ihre abschließende Form beschaffen wäre, würde sie auf sieben Säulen aufbauen.

· Erstens muss die EU eine beträchtliche Anzahl von Flüchtlingen direkt aus den Frontstaaten aufnehmen, und zwar auf sichere und geordnete Weise. Dies wäre für die Öffentlichkeit akzeptabler als der derzeitige Mangel an Ordnung. Wenn die EU sich verpflichten würde, auch nur 300.000 Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen, würden die meisten echten Asylsuchenden die Wahrscheinlichkeit, ihr Ziel auf legalem Wege zu erreichen, als ausreichend gut einschätzen, und es würde sie davon abhalten, Europa illegal zu erreichen.

· Zweitens muss die EU die Kontrolle über ihre Grenzen zurückgewinnen. Es gibt kaum etwas, das die Öffentlichkeit stärker verprellt und ängstigt als Szenen des Chaos.

· Drittens muss die EU ausreichende finanzielle Mittel auftun, um eine umfassende Migrationspolitik zu finanzieren. Laut Schätzungen werden hierzu für eine Anzahl von Jahren mindestens 30 Milliarden Euro jährlich benötigt.

· Viertens muss die EU gemeinsame Mechanismen zum Schutz der Grenzen, zur Entscheidung von Asylanträgen und zur Umsiedlung von Flüchtlingen entwickeln. Ein einheitliches Asylverfahren würde die Anreize für den Asyltourismus abbauen und wieder Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten herstellen.

· Fünftens bedarf es eines freiwilligen Abstimmungsmechanismus für die Umsiedlung der Flüchtlinge. Die EU kann die Mitgliedstaaten nicht zwingen, Flüchtlinge zu akzeptieren, die sie nicht wollen, und sie kann die Flüchtlinge nicht zwingen, an Orte zu gehen, wo sie unerwünscht sind.

· Sechstens muss die EU Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, deutlich stärker unterstützen, und sie muss in ihrem Ansatz gegenüber Afrika großzügiger sein.

· Die letzte Säule ist die langfristige Schaffung eines einladenden Umfeldes für Wirtschaftsmigranten. Angesichts der alternden Bevölkerung in Europa überwiegen die mit der Migration verbundenen Vorteile die Kosten der Integration der Migranten deutlich.

Die Verfolgung dieser Grundsätze ist unverzichtbar, um Ängste der Öffentlichkeit zu beruhigen, chaotische Asylströme abzubauen, sicherzustellen, dass die Neuankömmlinge vollständig integriert werden, für beide Seiten vorteilhafte Beziehungen zu Ländern im Mittleren Osten und in Afrika aufzubauen und humanitären Verpflichtungen nachzukommen.

Die Flüchtlingskrise ist nicht die einzige Krise, der Europa sich stellen muss, aber sie ist die dringlichste. Und wenn in der Flüchtlingsfrage Fortschritte erzielt werden könnten, würde dies dazu führen, dass sich andere Probleme – griechische Schuldenkrise, Brexit, Russland – leichter bewältigen lassen. Alle, die sich das Überleben der EU wünschen, sollten sich hinter diese Strategie stellen. Aus dem Englischen: Jan Doolan. Copyright: Project Syndicate. (George Soros, 23.9.2016)