Wien – Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) fordert mehr Rechte und Pflichten für Patchworkeltern. Er könne sich vorstellen, das Sorgerecht auf mehrere Personen auszudehnen, die dann auch elterliche Mitverantwortung erhalten. Mit diesem Modell wäre es beispielsweise möglich, neue Partner der biologischen Eltern einzubeziehen oder einem schwulen und einem lesbischen Paar gemeinsam die Möglichkeit zu geben, ein Kind großzuziehen.

"Da geht es nicht nur um kleine Entscheidungen beim Kinderarzt oder das Unterschreiben einer Schularbeit, sondern auch um eine Freistellung, wenn das Kind krank ist, oder um gemeinsame Reisen ins Ausland", sagt Stöger im STANDARD-Sommergespräch mit der Musikerin Birgit Denk. Familien hätten sich verändert, da sei "das Recht nicht auf der Höhe der Zeit", erläutert der Minister. Er befürworte deshalb auch die Möglichkeit zur künstlichen Befruchtung für alleinstehende Frauen, die Homo-Ehe und ein Adoptionsrecht für schwule und lesbische Paare.

"Da sitzt ein kleiner Revoluzzer neben mir", urteilt Musikerin Birgit Denk. Video: Christian Fischer
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STANDARD: Herr Minister, Birgit Denk besingt in einem bekannten Lied von ihr, dass sie oft zu laut ist. Wann war Ihnen zuletzt zum Schreien zumute?

Stöger: Mir ist oft zum Schreien zumute. Immer dann, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt. Wenn jemand nicht versteht, dass die Demokratie in Gefahr ist, wenn die Solidarität abnimmt – das macht mich wütend. In meiner Rolle darf ich aber nicht schreien, sondern muss der sein, der sorgsam ist. Ich muss erklären, warum es wichtig ist, dass wir in einer solidarischen Gesellschaft leben. Es geht da letztlich um nicht weniger als Frieden.

STANDARD: Sie sitzen dem Sozialminister gegenüber. Welche soziale Ungerechtigkeit lässt Sie denn aus der Haut fahren?

Denk: Ich habe viele Jahre als Sozialpädagogin im Behindertenbereich gearbeitet. Da hat sich die letzten Jahre zwar einstellungsmäßig einiges getan, aber ansonsten nicht viel. Gerade im Arbeitsbereich, das weiß bestimmt auch der Herr Minister, klaffen offene Löcher, und die gehören dringend gestopft. Es fehlt eine Sozialversicherung für Menschen in Behindertenwerkstätten. Und dann dieses unsäglich blöde Taschengeld als Bezahlung, das grenzt ja fast an Sklaverei. Da werd' ich laut.

STANDARD: Frau Denk ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Auch Ihr Amtsvorgänger und Parteifreund Erwin Buchinger resümierte vor kurzem, dass im Behindertenbereich wenig weitergeht. Wie werden Sie das ändern?

Stöger: Das ist ein ständiger Prozess. In vielen Bereichen sind wir weitergekommen, die Geschwindigkeit ist aber zu niedrig, diese Kritik ist berechtigt. Es muss einen gesellschaftlichen Konsens geben, mit diesem Thema offener umzugehen.

Denk: Vor allem müssten Sie behinderten Menschen Wahlmöglichkeiten geben. Früher hieß es noch Beschäftigungstherapien, heute heißt es Werkstätte. Wir kennen alle noch diese Christkindlmarkt-Basteleien, wo dann jeder gesagt hat: "Ah schau, das ist von den armen Behinderten, da kauf ich jetzt irgendein schiefes Tongefäß für zwanzig Euro." Davon sind wir längst weg. Die Einrichtungen arbeiten professionalisiert. Wenn Werkstücke hergestellt werden, dann unter der Anleitung von Fachleuten. Das wird alles gut verkauft, aber der, der das gemacht hat, schaut durch die Finger. Das gehört ganz dringend geändert.

STANDARD: Das könnten Sie ja, Herr Minister.

Stöger: Kreative Leistung ist an sich Arbeit und zu bezahlen. Da muss man hinschauen, ob das alles korrekt ist. Wir führen ja gerade die prinzipielle Diskussion, was wir Menschen geben, bei der Mindestsicherung. Hat ein Mensch Anspruch auf ein Existenzminimum, auch wenn er nicht in der Lage ist, eine Gegenleistung zu erbringen? Ich sage, wir müssen Menschen in einer Notsituation unterstützen. In vielen Medien wird derzeit dieser solidarische Grundkonsens infrage gestellt. Da müssen wir uns wehren.

Birgit Denk und Alois Stöger diskutierten im Garten des Wiener Salonplafond.
Foto: Standard / Matthias Cremer

STANDARD: Sie bezeichnen sich als Feministen. Hätten Sie das in der Voest-Kantine während Ihrer Zeit als Maschinenschlosser auch schon getan?

Stöger: Ja. Ja, ganz sicher. In meiner Zeit in der Gewerkschaftsjugend haben wir uns intensiv mit Machtverhältnissen auseinandergesetzt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern beiden Geschlechtern schaden. Das hätte ich mich in der Voest-Kantine auch schon zu sagen getraut.

STANDARD: Wozu brauchen wir Feminismus heute überhaupt noch?

Denk: Feminismus ist ein Bekenntnis zu gesellschaftlicher Gleichheit, die es bis heute nicht gibt. Punkt. Da geht es nicht nur um die Behandlung von Frauen und Männern im Beruf. Da sind wir im Grunde wieder beim Thema Leistung. Was ist mit einer Frau, die zuerst die Oma pflegt, dann die Kinder großzieht, sich auch um den Papa kümmern muss und deshalb nie ein Einkommen hatte? Eine Frau mit so einer Geschichte ist abhängig vom Mann. Das sind Dinge, die passieren noch immer. Es gibt Leistung, die sich nicht auf dem Gehaltsscheck am Ende des Monats manifestiert. Das muss eine Gesellschaft anerkennen – bei Behinderten, bei Migrantinnen, bei Asylwerbern, bei Frauen.

STANDARD: Sie sind auch für Männerpolitik zuständig. Vor Jahren haben Sie bereits gefordert, dass die künstliche Befruchtung lesbischen Paaren offenstehen sollte. Schwule Männer haben bis heute kaum Möglichkeiten, ihren Kinderwunsch zu realisieren. Sollte Leihmutterschaft erlaubt sein?

Stöger: Ich glaube nicht. Weil das neue Abhängigkeiten schaffen würde. Aber es geht schon um die Frage, wie wir mit Adoptionen umgehen. Ich sage hier ganz deutlich: Wir sollten viel entkrampfter sein. Die Gesellschaft verträgt zwei Männer mit Kind, also wenn gleichgeschlechtliche Paare ein Adoptivkind haben und auch heiraten dürfen. Das sollen die Menschen so miteinander vereinbaren können, wie sie wollen. Es würde sehr, sehr viel erleichtern, wenn man in Österreich dazu bereit wäre. Es war für mich eine wichtige Erfahrung, als alleinerziehender Vater allein für die Betreuung meiner Tochter verantwortlich zu sein. Da habe ich viel gelernt. Andere würden sagen, dass es ein Nachteil war. Ich glaube, dass es ein Nachteil für viele Männer ist, wenn sie ihre Kinder nicht erleben.

"Die Gesellschaft verträgt zwei Männer mit Kind", ist der Sozialminister überzeugt.
Foto: Standard / Matthias Cremer

STANDARD: In Deutschland wird darüber diskutiert, das Sorgerecht auf bis zu vier "soziale Eltern" pro Kind auszudehnen, um neue Partner einzubinden oder eben einem lesbischen und einem schwulen Paar gemeinsam die Möglichkeit zu geben, ein Kind zu haben. Was halten Sie davon?

Stöger: Es gibt schon jetzt viele sogenannte Bonuseltern. Familienverbände haben heutzutage nicht mehr zwangsläufig etwas mit Abstammung zu tun. Ich habe selbst eine Bonustochter – die Tochter meiner Frau, die sie in die Ehe mitgebracht hat. Die Gesellschaft hat sich verändert, und es geht jetzt darum, dem auch rechtlich Rechnung zu tragen. Da sind wir gesetzlich derzeit kleinkariert.

STANDARD: Sie sind also dafür, dass auch Patchworkeltern Rechte und Pflichten bekommen können?

Stöger: Ja, da geht es nicht nur um kleine Entscheidungen beim Kinderarzt oder das Unterschreiben einer Schularbeit, sondern beispielsweise auch um eine Freistellung, wenn das Kind krank ist, oder um gemeinsame Reisen ins Ausland. Die Rechte und Pflichten von Bonuseltern auszubauen wäre eine große Erleichterung für viele bestehende Familien, und für homosexuelle Paare würden sich neue Möglichkeiten auftun. Man muss natürlich klären, was man tut, wenn etwas strittig ist, wer dann was entscheidet. Aber Familiensituationen haben sich verändert. Da gibt es viele Themen, bei denen das Recht nicht auf der Höhe der Zeit ist.

Denk: Ich bin absolut d'accord.

STANDARD: Da viele Kinder schon jetzt mit nur einem Elternteil aufwachsen: Sollte auch alleinstehenden Frauen die künstliche Befruchtung offenstehen?

Stöger: Auch damit habe ich überhaupt kein Problem.

Denk: Der Herr Minister ist ja ein richtiger Revoluzzer ...

STANDARD: Die SPÖ ist offen für ein Burkaverbot, es gibt in Österreich keine Richterin mit Kopftuch – wo soll der Staat sichtbare Zeichen von Religion verbieten dürfen?

Stöger: Wenn Kleidung tatsächlich zu Unterdrückung führt, dann hat eine demokratische Gesellschaft dagegen aufzutreten. Insofern gibt es Symbole, die ich nicht akzeptiere. Da fühle ich mich der Aufklärung verpflichtet.

Denk: Es geht da aber auch um Haltung. Ich kann nicht jeden, der mir nicht in den Kram passt, verbieten lassen. Früher waren es die Burschen mit den langen Haaren, da hat man auch gesagt, das gehört verboten, die muss man scheren.

Stöger: Kämpfe hab ich da ausgetragen ...

Denk: Na eben! Stellen wir uns vor, 1966 wäre ein Gesetz erlassen worden, das sagt, dass allen Burschen inklusive des Herrn Minister die Haare über den Ohren abgeschnitten werden müssen. Man kann nicht alles an Äußerlichkeiten aufhängen. Wir sind so ein oberflächlicher Haufen geworden. Die Frau mit Burka sollte man halt einfach mal anquatschen. Ich will nicht wissen, wie viele arme, unterdrückte Frauen ohne Kopftuch daheimsitzen. Denen kann man auch nicht gesetzlich verordnen, dass sie vom Mann getrennt sein müssen. Das an irgendwelchen Symbolen festzumachen ist ein Schattenkampf, der davon ablenkt, worum es wirklich geht.

"Worte allein reichen nicht", mahnt Denk den Minister.
Foto: Standard / Matthias Cremer

STANDARD: Haben wir verlernt, uns auf andere einzulassen?

Denk: Ich glaube, dass bei vielen Leuten die Angst, sich mit etwas anderem auseinanderzusetzen, darin begründet ist, dass sie Angst haben, sich im Fremden selbst zu verlieren. Die eigene Identität verliert man aber nur schnell, wenn sie von Anfang an nur sehr schwach ausgebildet war. Wir müssen Menschen wieder mehr in sich bestärken, damit sie sich dann auch auf andere einlassen können.

Stöger: Das Kollektiv spielt da eine wichtige Rolle. Solidarität darf man nicht nur als etwas Altruistisches verstehen, es ist etwas, das mir etwas bringt. Etwas, das mich in meiner Individualität unterstützt. Wenn ich weiß, dass ich eine soziale Krankenversicherung habe, kann ich mich freier und besser bewegen. Wenn ich weiß, dass ich einen Schutz habe, dann ist es leichter, meine Kreativität zu leben.

Denk: Viele glauben, das ist gottgegeben. Die glauben, es gibt überall auf der Welt Sozialversicherungen und Schulbus und Arbeitslosengeld.

STANDARD: Der Sozialminister sollte den Menschen also erklären, dass der Sozialstaat keine Selbstverständlichkeit ist?

Denk: Den Eindruck habe ich. Nicht à la: Wartets nur, wenn ihr die Falschen wählts ...

Stöger: Doch! Das hängt schon auch damit zusammen in einer Demokratie.

Denk: Aber die Leute wollen nicht dieses "Wählt mich, damit alles so bleibt, wie es ist". Als Sozialminister sollte man sich hinstellen, sagen, welche Werte man vertritt und was die uns bringen.

Stöger: Es ist nicht Aufgabe des Sozialministers, die Verantwortung für die Sozialpolitik allein zu tragen, diese Aufgabe tragen wir schon alle gemeinsam.

Denk: Aber Sie halt noch ein bissl mehr. Worte allein reichen nicht, Sie müssen jetzt umsetzen, was Sie propagieren. (Katharina Mittelstaedt, 21.9.2016)