Neuwahlgerüchte sind in der österreichischen Innenpolitik nichts Ungewöhnliches. Sie verdichten sich immer dann besonders, wenn wichtige Personalentscheidungen zu Konflikten in der rot-schwarzen Koalition führen. Das war vor einigen Monaten bei der Bestellung der Rechnungshof-Spitze der Fall, und kürzlich im Zusammenhang mit Neubesetzungen von Leitungsfunktionen im ORF.

Aber lassen wir beiseite, was an den Gerüchten dran ist. Werfen wir lieber einen kühlen Blick darauf, welche Ausgangspositionen für Koalitionsverhandlungen die derzeitigen Umfragewerte den Parteien bescheren würden und welche strategischen Anreize sich daraus ergeben.

Dazu muss man erst einmal festhalten, dass Wahlerfolge in Koalitionssystemen wie Österreich ja nicht automatisch zur Regierungsbeteiligung führen – außer eine Partei erreicht eine absolute Mandatsmehrheit. Die Wähler bestimmen zwar die Stärkeverhältnisse im Nationalrat, aber die Regierungszusammensetzung wird erst durch Verhandlungen zwischen den Parteien bestimmt.

Theoretisch gibt es in einem Parlament mit n Parteien 2 n – 1 mögliche Regierungen. Bei fünf im Nationalrat vertretenen Parteien (laut Umfragen FPÖ, SPÖ, ÖVP, Grüne und Neos) wären das 31 Varianten. Viele davon sind sehr unwahrscheinlich, etwa die fünf Ein-Parteien-Minderheitsregierungen oder eine Konzentrationsregierung aller fünf Parteien.

Um zu bewerten, wer die beste Verhandlungsposition bei einer gegebenen Mandatsverteilung hat, kann man sich sogenannter Machtindizes bedienen. Ich verwende hier den normalisierten Banzhaf-Index, der die Wahrscheinlichkeit angibt, dass eine Partei in einer Abstimmungskoalition die entscheidenden Stimmen beiträgt. Nehmen wir zum Beispiel folgende Mandatsverteilung an:

  • Partei A: 4 Stimmen
  • Partei B: 3 Stimmen
  • Partei C: 2 Stimmen
  • Partei D: 1 Stimme

Für eine Mehrheit sind sechs der zehn Stimmen notwendig. Folgende Koalitionen verfügen über diese Mehrheit: AB, AC, ABC, ABD, ACD, BCD, ABCD. Jedoch sind nur die hier fett geschriebenen Parteien für die Mehrheit in einer Koalition notwendig. Die Koalition ABC etwa verliert nur bei Austritt von A ihre Mehrheit, B und C könnten jeweils die Koalition verlassen, ohne dass diese ihren Mehrheitsstatus einbüßt. Der Banzhaf-Index gibt an, welchen Anteil eine Partei an den fett geschriebenen Koalitionen hat – das heißt, wie oft sie eine Mehrheit durch ihren Austritt in eine Minderheit verwandeln kann. Im vorliegenden Beispiel sind zwölf Parteien fett geschrieben, fünf Mal A, je drei Mal B und C, nur einmal D. Daher ist der Banzhaf-Index für Partei A 5/12, für B und C je 3/12 und für D genau 1/12.

Die erste Grafik zeigt Mandatsanteil und Banzhaf-Index für die ÖVP bei allen Nationalratswahlen seit 1945 (plus eine Schätzung basierend auf derzeitigen Umfragen). Es zeigt sich, dass Mandatsstärke und Machtindex zwar zusammenhängen, dieser Zusammenhang aber nur sehr lose ist. Bei absoluter Mandatsmehrheit (1945 und 1966) ist der Index logischerweise 100 Prozent, bei absoluter Mandatsmehrheit einer anderen Partei (die SPÖ unter Kreisky zwischen 1971 und 1979) ist der eigene Indexwert null. Kleine Verschiebungen in der Mandatsverteilung können große Unterschiede in der Verhandlungsposition einer Partei bewirken, wie das Beispiel der ÖVP zwischen 1945 und 1980 zeigt.

Sehen wir uns näher an, welche Konstellation derzeit wahrscheinlich wäre. Basierend auf jüngsten Umfragen nehme ich folgende Mandatsverteilung bei Neuwahlen an: FPÖ 63, SPÖ 48, ÖVP 37, Grüne 24 und Neos 11. Von den 31 möglichen Regierungen haben 16 eine Mehrheit. In diesen 16 Mehrheitskoalitionen gibt es 26 Szenarien, in denen eine Partei den Ausschlag für die Mehrheit gibt (das entspricht der Anzahl der fett geschriebenen Parteien im Beispiel oben).

Daraus ergeben sich Banzhaf-Indexwerte von 38 Prozent für die FPÖ, 23 Prozent für SPÖ und ÖVP sowie acht Prozent für Grüne und Neos – dargestellt in der zweiten Grafik durch die pinken Balken.

Die Freiheitlichen hätten also theoretisch die beste Ausgangsposition. Als stärkste Partei würden ihre Stimmen in zehn von 26 Szenarien (38 Prozent) für die Mehrheit den Ausschlag geben. SPÖ und ÖVP hätten gleich große Verhandlungsmacht (ausschlaggebend in sechs von 26 Szenarien), Grüne und Neos in je zwei Fällen.

Allerdings muss man bedenken, dass diese Berechnungen farbenblind sind. Sie berücksichtigen nicht, welche Koalitionsformen von den Parteien a priori ausgeschlossen werden. SPÖ, Grüne und Neos haben allesamt klargestellt, dass eine Zusammenarbeit mit der FPÖ für sie auf Bundesebene nicht infrage kommt. Natürlich kann man seine Meinung nach der Wahl immer noch ändern, aber nehmen wir die Parteien einmal beim Wort und schließen aus der Berechnung alle Varianten aus, bei denen zumindest eine dieser drei Parteien mit der FPÖ gemeinsam regieren würde.

Durch den Vergleich der Banzhaf-Indexwerte mit und ohne Koalitionsaussagen zeigt sich, welch dramatischen Einfluss die Festlegungen der Parteien auf die Verhandlungsdynamik haben. Die Zahl der möglichen Mehrheitskoalitionen reduziert sich dadurch von 26 auf zehn. Wie der jeweils rechte Balken (lila) in der Abbildung oben zeigt, verschieben sich die Banzhaf-Indexwerte in zwei Fällen sehr stark. Die ÖVP ist nun plötzlich in vier von zehn Fällen ausschlaggebend (FV, SVG, SVN, SVNG), die FPÖ nur mehr in einem von zehn (FV). Für SPÖ, Grüne und Neos gibt es geringere Verschiebungen in der Verhandlungsposition.

Just jene Parteien also, die bestimmte Koalitionsaussagen treffen (SPÖ, Grüne und Neos), verändern ihre Verhandlungsposition dadurch wenig. Sie stärken damit aber die ÖVP, die keine Option ausschließt, und schwächen die FPÖ.

Wenn wir annehmen, dass Parteien vor allem deswegen Wahlen gewinnen wollen, um in die Regierung zu kommen, dann haben die oben gezeigten Ergebnisse wichtige Implikationen. Sollten etwa die Neos ein paar Prozentpunkte von den Grünen gewinnen, verbessert sich ihre Verhandlungsposition nicht (umgekehrt schon, vor allem wenn die Neos dadurch aus dem Nationalrat ausscheiden würden). Für die FPÖ stellt sich die Frage, ob Stimmenmaximierung der beste Weg zur Regierungsverantwortung ist, wenn sich drei von vier anderen Parteien einer Zusammenarbeit verweigern. Vielleicht wäre es sinnvoller, den inhaltlichen Kurs so zu moderieren, dass andere Parteien ihre Koalitionsaussagen überdenken.

Eine Wahlkampfstrategie, die rein auf Stimmengewinne abzielt, ist daher zu kurz gedacht. Wichtig ist es vielmehr, die eigene Verhandlungsposition zu optimieren. Dazu muss man nicht nur versuchen, Stimmen zu gewinnen, sondern auch berücksichtigen, woher diese kommen sollen. Ebenso ist es oft sinnvoller, durch inhaltliche Positionierungen die eigenen Koalitionsoptionen zu erweitern – auch wenn das am Wahltag ein paar Prozentpunkte kostet. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 20.9.2016)