Wählen per Klick ist bequem, zu bequemes Wählen könnten den Akt des demokratischen Mitbestimmens aber auch entwerten, warnt Politologin Melanie Sully.

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Wien – Der Fall wird als #Uhugate in Erinnerung bleiben: die durch reihenweise schlecht geklebte Briefwahlkuverts ausgelöste Verschiebung der Stichwahl des Staatsoberhaupts. Wie aber so ein Schlamassel künftig vermeiden? Briefwahl einschränken, lautet die Reaktion der FPÖ. E-Voting etablieren, schlägt die ÖVP vor.

Nur, was ist mit dem allgemein verwendeten "E-Voting" eigentlich gemeint? Denn genau genommen gilt es zu unterscheiden zwischen E-Voting und I-Voting, quasi das digitale Substitut für die Briefwahl, indem ortsungebunden per Internet abgestimmt wird.

Wählen im Supermarkt

Das "klassische E-Voting", wie es Politikwissenschafterin Melanie Sully im STANDARD-Gespräch nennt, bedeutet hingegen den Einsatz elektronischer Abstimmgeräte bei Wahlen: "Ein Automat oder Wahlkiosk, zum Beispiel im Supermarkt, wo man dann wie bei einem Bankomaten via Touchscreen die Stimme abgeben kann."

In den USA sorgten aber auch derartige Touchscreen-Wahlgeräte wiederholt für Unregelmäßigkeiten, indem Stimmen falschen Kandidaten zugeordnet wurden oder ganz verschwunden sind.

Ein Kreuz oder ein Like

Und mit I-Voting via Internet wäre alles gut oder zumindest besser? Nicht automatisch, warnt Sully, die in Wien das Institut Go-Governance leitet. Zwar gebe es unbestrittene Vorteile wie den "Bequemheitsfaktor", dem ja auch die Briefwahl vielfach Rechnung trägt, dass man eben nicht in ein Wahllokal gehen muss, sondern mobil von jedem Ort mit Internet wählen kann. Aber es lauert auch die demokratiepolitisch problematische "Bequemlichkeitsfalle". Denn, so der Einwand der Politologin: "Wenn man das Wählen zu bequem macht, läuft man Gefahr, dass der Akt des Wählens per Knopfdruck unreflektiert durchgeführt wird wie ein Status-Update oder ein Like auf Facebook. Das könnte zu einer Entwertung des Wählens führen."

Digitale Kluft

Ein anderes Problem im Zusammenhang mit Internetwahl ist die "digital divide", die Kluft zwischen internetaffiner, technologiegeübter Wählerschaft und jener, die keinen Zugang zum Internet hat (können) oder aus welchen Gründen auch immer nicht will. Das könnte bestimmte Gruppen benachteiligen oder ausschließen, etwa ältere Personen.

Was der Kleber beim Kuvert, kann beim Computer der "Absturz" sein, nennt Politologin Sully einen weiteren bedenkenswerten Punkt. In Großbritannien führte im Juni ein Last-Minute-Registrierungsaufruf für junge Wähler zu einem Systemabsturz. Die Frist wurde kurzerhand um 48 Stunden verlängert, und 400.000 Wählerinnen und Wähler ließen sich für die Brexit-Abstimmung registrieren.

Transparenz notwendig

Was, wenn das bei einer Internetwahl passiert, weil das Wahlsystem nicht robust genug ist? Oder die wichtige Frage nach der Entwicklung einer Software für Wählen per Klick: "Wer besitzt die Software? Der Staat – aber welche Firma entwickelt sie", fragt Sully: "Im Interesse voller Transparenz muss gesichert sein, dass die Firmen keinerlei Verbindung zu Parteien oder Kandidaten haben."

Ein grundsätzliches Problem im Zusammenhang mit digitaler Stimmabgabe ist die Frage der Einhaltung des Wahlgeheimnisses, also die Nichtzuordenbarkeit einer Stimme. Zugleich sieht Sully den "größten Nachteil" elektronischer Wahlen darin, "dass im Falle einer Neuauszählung nicht klar ist, wer für wen eine Stimme abgegeben hat". Geheimhaltung und Anonymität bei der Stimmabgabe, aber auch die Sicherheit, dass die Stimme wirklich mitgezählt wird, müssten sichergestellt sein.

Estland ist Digitalpionier

Und wer traut sich nun bereits, dem Internet den Wahlvorgang zumindest teilweise als Zusatzangebot zur persönlichen Stimmabgabe in der Wahlkabine anzuvertrauen? Indien etwa oder in Europa Estland. Der baltische Staat gilt als digitaler Vorreiter. Seit 2002 haben alle Bürger eine elektronische ID-Karte. "Internetzugang für alle" ist sogar in der Verfassung verankert. 2005 war bei den Kommunalwahlen erstmals weltweit die Stimmabgabe per Internet möglich. Damals stimmten rund zwei Prozent der Wähler per Computer ab. In einzelnen Wahlbezirken gab es sogar bis zu zehn oder 20 Prozent I-Wähler, zwei Jahre später bei der landesweiten Parlamentswahl sechs Prozent.

Wählen via App

In Estland kann man mittlerweile das Smartphone – wie bei der Handysignatur in Österreich – bei der Wahl zur Identifizierung verwenden und dann mit dem PC eine App herunterladen, um dann zu wählen. Wer es traditioneller mag, kann nach wie vor persönlich ins Wahllokal gehen und die Wahlentscheidung in eine Wahlmaschine eintippen. 2015 gaben bei der Parlamentswahl ein Viertel der Wählerinnen und Wähler ihre Stimme per I-Voting ab. Auch dort ist die Internetwahl derzeit aber nur als Zusatzangebot etabliert.

Versuche gab es auch andernorts. In Deutschland gaben 2005 zwei Millionen Bürger ihre Stimme an einem von 1.800 Wahlcomputern ab, 2009 erklärte das Bundesverfassungsgericht diese aber als unzulässig, weil die Technik Mängel habe und schwer zu kontrollieren sei. Jedoch wurde betont, dass die Nutzung von Wahlgeräten durchaus zulässig sei, und "auch Internetwahlen hat das Gericht nicht etwa einen endgültigen Riegel vorgeschoben".

Internetwahl für Soldaten

In Belgien wird I-Voting für einige Wahlen verwendet, erzählt Melanie Sully, Frankreich bietet es für Wähler im Ausland an, die Niederlande hatten einen Probebetrieb, der aber wieder eingestellt wurde. In Großbritannien konnten die Bürger seit 2002 bei mehreren Lokalwahlen Internetvoting nutzen, Australien wiederum ermöglichte 2007 seinen Soldaten in Afghanistan eine Wahlteilnahme per Internet.

Angesichts der komplexen (sicherheits)technischen, aber auch demokratiepolitischen Gemengelage hält die Politologin "einen lokalen Probebetrieb für sinnvoll, bevor man es national einführt, sonst könnte es ordentlich schiefgehen, weil technische Probleme auftauchen – und dann hätten wir das gleiche Problem wie jetzt".

#Gluegate

Apropos: Ironischerweise droht auch bei der US-Präsidentschaftswahl im November trotz Touchscreen-Maschinen ein Kleberproblem, quasi #Gluegate. Laut einem staatlichen Testlabor kann nämlich die Glasur auf der Kante des Touchscreens den Kleber, der den Screen auf seinem Platz hält, langsam beeinträchtigen – und der Screen als Folge davon verrutschen und ein falsches Votum speichern. Es wird sich zeigen, wer früher einen neuen Präsidenten hat: Österreich oder die USA. (Lisa Nimmervoll, 20.9.2016)