Firas und Momo würden lieber in die Schule gehen.

Foto: Bartholomäus von Laffert

"Sind sie weg?", flüstert der zwölf-jährige Firas seinem vier Jahre älteren Cousin Momo zu, der vorsichtig versucht, einen Blick auf die Straße zu erhaschen. Zusammengekauert sitzen die beiden Jungen in ihrem Versteck auf den Kellerstufen vor dem vergitterten Eingang des Metro-al-Madina-Theaters in Beirut. Momo hat seinen linken Arm schützend um den Cousin geschlungen.

Oben auf dem Boulevard in Hamra, Beiruts angesagtem Vorzeigeviertel, hasten Touristen mit großen Koffern und schick gekleidete Libanesen mit schweren Einkaufssackerln vorbei an gläsernen Shoppingmalls; vorbei an amerikanischen Burgerketten und teuren Schmuckboutiquen. Die zwei Jungen auf der Kellertreppe bemerkt niemand. Auch die zwei Polizisten in ihren grau-blauen Camouflage-Uniformen und den schweren Stiefeln nicht, von denen sie gerade noch durch die Straßen gehetzt wurden. Momo und Firas sind syrische Flüchtlinge. Vor fast vier Jahren sind die beiden in den Libanon gekommen. Firas mit seinen Eltern und den fünf Geschwistern, Mohammed mit seinem Vater. Genauso lange arbeiten sie. Illegal. Als Schuhputzer in Hamra. Von der libanesischen Flüchtlingspolitik dazu gezwungen, von den Polizisten deswegen verfolgt.

"Natürlich würde ich lieber wieder in die Schule gehen", sagt Momo. Mit einem alten Zahnstocher versucht er sich Dreck aus den verschmierten Fingernägeln zu pulen. "Aber wenn du die Wahl hast: klug sterben oder dumm leben – was nimmst du?"

Unter vier Dollar pro Tag

Von den 400.000 Flüchtlingskindern im schulpflichtigen Alter, die das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR im Libanon registriert hat, besuchen gerade einmal 150.000 öffentliche Einrichtungen – Tendenz sinkend. 70 Prozent der Flüchtlinge leben unterhalb der landesweiten Armutsgrenze von vier Dollar am Tag, den Besuch einer Privatschule kann sich kaum eine Familie leisten. Übrig bleibt deshalb fast eine Viertelmillion Kinder ohne vernünftige Schulbildung. Kinder, die nie einen gültigen Abschluss erlangen, die Lesen und Schreiben vielleicht nie lernen werden.

"Wir sind dabei, nicht nur die syrische, sondern auch die libanesische Zukunft zu verspielen. Die Flüchtlingspolitik der Regierung ist ein Tanz auf dem brodelnden Vulkan", sagt Wadih al-Asmar, der sich als Präsident des Lebanese Center for Human Rights (CLDH) für Kinderrechte im Libanon einsetzt. "Wir brauchen jetzt Integration, statt Segregation in Camps, humanitären Schutz statt Abschiebedrohungen, Schulbildung statt arbeitende Kinder", kritisiert er. "Sonst werden soziale Unruhen das Land erschüttern".

Im Frühjahr 2015 hatte die Regierung des Libanon mit seinen gerade einmal vier Millionen Einwohnern nicht nur die Grenze zu Syrien abgeriegelt und das UNHCR dazu gezwungen, die Registrierung von Flüchtlingen zu stoppen, um den Flüchtlingsstrom zumindest auf dem Papier einzudämmen. Gleichzeitig wurden die Residenzauflagen für die im Land lebenden Syrer immens verschärft: Wer als Flüchtling registriert ist, muss sich damit einverstanden erklären, nicht zu arbeiten – gleichzeitig muss eine Familie pro Person pro Jahr 200 Euro für einen legalen Aufenthaltsstatus zahlen.

60 Cent pro Schuhpaar

Dieses sozialpolitische Paradoxon hat dazu geführt, dass inzwischen rund 70 Prozent der eine Million vom UNHCR im Land registrierten Syrer illegal im Land sind. Wer sich im Land bewegt, läuft Gefahr, an den zahlreichen militärischen Checkpoints festgenommen zu werden, muss mit hohen Geldstrafen rechnen und wird von den libanesischen Sicherheitskräften mit einem sogenannten "Self-Deportation-Paper" abgestraft, das eine freiwillige Rückkehr nach Syrien fordert – zurück in den Bürgerkrieg, vor dem Momo und Firas vor fünf Jahren geflohen sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 hat der Libanon nie anerkannt.

"Aus Angst, inhaftiert zu werden, nehmen Eltern ihre Kinder aus der Schule und schicken sie in die Arbeit", erklärt Wadih al-Asmar. Sie sind die Straßenkinder Beiruts, die an diesem Nachmittag aufgereiht vor den hippen Cafés in der Hamra Street stehen. Kinder wie Momo und Firas, die mit über die Schulter geschlungenen Kisten voll stinkender Schuhcremes durch die Straßen pirschen.

"1000 libanesische Pfund verdiene ich mit jedem Paar", erzählt Firas, während er einem jungen Banker mit einer alten Zahnbürste den Dreck aus den Rillen der Designerschuhe kratzt. Das sind rund 60 Eurocent. Sein Minimalziel: 20 Schuhpaare am Tag. Dann ist Feierabend. (Bartholomäus von Laffert aus Beirut, 20.9.2016)