Ankara/Athen – Gestern noch Terroristen, heute wieder im Klassenzimmer: Rechtzeitig zum Beginn des Schuljahres in der Türkei an diesem Montag hat zumindest der Gouverneur der überwiegend kurdischen Provinz Tunceli knapp die Hälfte der Lehrer in seinem Gebiet wieder eingestellt. Die Kehrtwende zeigt, welche Ausmaße die Säuberungswelle in der Türkei im derzeit geltenden Ausnahmezustand angenommen hat.

Von 946 Lehrer in der zentralanatolischen Provinz Tunceli waren gerade erst 504 wegen angeblicher Verbindungen zur kurdischen Untergrundarmee PKK gefeuert worden. 419 dieser Lehrer rief der Gouverneur zurück, um einen Unterricht an den Schulen möglich zu machen.

Kein Bereich in der Türkei ist seit dem gescheiterten Putsch vom Juli so von den Säuberungen von angeblichen Verschwörern und Staatsfeinden betroffen wie das Bildungsministerium in Ankara und die Schulen und Universitäten, die ihm unterstehen. Mit fristlosen Entlassungen und Suspendierungen geht die von Staatschef Tayyip Erdoğan dirigierte Regierung nicht nur gegen angebliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, Erdoğans früheren politischen Partners, vor, der Staatschef nutzt die Vollmacht des Ausnahmezustands auch für den Krieg gegen die PKK. Mutmaßliche Unterstützer an den Schulen in den kurdisch bewohnten Gebieten sind ebenfalls im Visier.

Es hätte längst getan werden müssen, so verteidigte Erdoğan den Beschluss, kurz vor Schulbeginn 11.285 Lehrer in den Kurdengebieten zu feuern. Die Opposition merkt an, für die Einstellung dieser Lehrkräfte sei ja nun das Bildungsministerium verantwortlich gewesen, das seit 14 Jahren von Erdoğans konservativ-religiöser AKP geführt werde.

40.000 entlassen

Von den 50.589 Beamten, die Anfang September per Dekret aus dem Staatsdienst entfernt worden waren, gehörten mehr als die Hälfte – 28.163 – zum Bildungsministerium. Sie alle sollen für das Gülen-Netzwerk gearbeitet haben. Mit den angeblichen PKK-Anhängern sind bereits knapp 40.000 Beamte im Ministerium und an Schulen entlassen worden.

Bildungsminister Ismet Yilmaz – seit Mai im Amt und jahrelang Verteidigungsminister – hat rasche Abhilfe versprochen. 70.000 Lehrer würden eingestellt, so kündigte er an. Wie das so schnell vonstattengehen soll, ist unklar. Für 17,5 Millionen Schüler gab es Anfang des Jahres laut Erdoğan ein Heer von 923.000 Lehrern. Das Niveau an den Schulen ist gleichwohl niedrig. Problemlösendes Denken werde nur in geringem Maß vermittelt, so stellte die Pisa-Studie 2012 fest. Eine erste Ausschreibung des Bildungsministeriums im August für 15.000 Lehrstellen sah die Anstellung von 375 Mathematiklehrern vor. 1.479 neue Stellen waren für den Religionsunterricht reserviert. (Markus Bernath, 19.9.2016)