Damaskus – Ein offenbar versehentlicher Luftangriff der US-geführten Koalition auf die syrische Armee hat das Verhältnis zwischen Washington und Moskau vor eine neue Zerreißprobe gestellt. Bei dem Angriff im Osten des Landes wurden am Samstag nach russischen Angaben 62 syrische Soldaten getötet und hundert weitere verletzt.

Wie die in Großbritannien ansässige "Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte" am Sonntag berichtete, dauerte der Angriff nahe der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor (Dair as-Saur/Deir Essor) rund 40 Minuten; 90 Menschen seien dabei ums Leben gekommen. Der UN-Sicherheitsrat kam auf Antrag Moskaus zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, bei der US-Botschafterin Samantha Power den Vorfall bedauerte.

Nach russischen Angaben drangen zwei F-16- und zwei A-10-Kampfflugzeuge der US-geführten Koalition vom Irak aus in den syrischen Luftraum ein. Die Jets hätten vier Angriffe gegen von der Jihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) umzingelte Stellungen der Regierungstruppen nahe dem Flughafen von Deir ez-Zor geflogen.

Nach Angaben der syrischen Armee mussten sich ihre Soldaten nach den Luftangriffen zurückziehen und zwei strategisch wichtige Hügel in der Nähe des Flughafens dem IS überlassen. Am Sonntag hätten die Truppen aber eine neue Gegenoffensive gestartet "und einigen Boden zurückgewonnen", hieß es aus Armeekreisen. Dabei seien die Soldaten durch Luftangriffe Russlands unterstützt worden.

Strategisch relevanter Hügel nahe des Flughafens

Die Hügel nahe des Flughafens sind von strategischer Bedeutung: Sollte der IS die Kontrolle behalten, könnten die Jihadisten alle startenden und landenden Flugzeuge von dort aus unter Beschuss nehmen. Die Stadt Deir ez-Zor und der Flughafen sind unter Regierungskontrolle, sie werden aber seit 2012 vom IS belagert und sind auf Versorgung durch die Luft angewiesen.

Nach Angaben des Pentagons gingen die Koalitionstruppen bei den Luftangriffen davon aus, dass sie IS-Stellungen attackierten. Die Koalition habe die Luftangriffe "sofort eingestellt", als sie von russischer Seite darüber informiert worden sei, dass sie möglicherweise auf syrisches Militär ziele. US-Botschafterin Power sagte bei der UNO in New York, es sei "nicht die Absicht" gewesen, syrisches Militär zu treffen. Die USA bedauerten "den Verlust von Menschenleben" und würden den Vorfall untersuchen.

USA wirft Russland Doppelmoral vor

Zugleich griff Power Russland, das die Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates verlangt hatte, scharf an und warf ihm "Doppelmoral" und "Effekthascherei" vor. Die syrische Regierung greife "mit einer beängstigenden Regelmäßigkeit bewusst zivile Ziele an", und Russland tue nichts, um dies zu verhindern.

Der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin warf seinerseits den USA vor, sich nicht an die Vereinbarung zu halten, von Angriffen auf syrische Stellungen abzusehen. Dies sei ein "schlechtes Vorzeichen" für die zwischen den USA und Russland vereinbarte Waffenruhe in Syrien.

Diese wurde allerdings ohnehin schon zuletzt zunehmend gebrochen. Die Zahl der Angriffe habe sich "in den vergangenen 24 Stunden deutlich erhöht", sagte der russische General Wladimir Sawschenko im Fernsehen. Das Verteidigungsministerium in Moskau machte moderate Rebellen für die Angriffe verantwortlich.

Streit um Hilfslieferungen

Weiterer Streitpunkt zwischen Washington und Moskau sind die zusammen mit der Waffenruhe vereinbarten Hilfslieferungen für die notleidende Bevölkerung in Syrien, die bisher nicht begonnen haben. US-Präsident Barack Obama warf der syrischen Führung vor, die humanitäre Hilfe bewusst zu blockieren. Washington macht eine militärische Kooperation mit Moskau im Kampf gegen Dschihadisten davon abhängig, dass die Hilfslieferungen die Bevölkerung erreichen.

Eine solche militärische Kooperation wollten Moskau und Washington entsprechend ihrer Einigung eigentlich beginnen, wenn die am Montag in Kraft getretene Feuerpause eine Woche hält. Doch auch dies scheint durch die Luftangriffe auf syrische Soldaten in weite Ferne gerückt: "Wenn den Luftangriffen ein Irrtum bei den Zielkoordinaten zugrunde liegt, wäre dies eine direkte Folge der Weigerung der USA, ihre Einsätze gegen die terroristischen Gruppen in Syrien zu koordinieren", erklärte die russische Armee. Die zwischen Washington und Moskau ausgehandelte Waffenruhe gilt nicht für Gebiete, in denen Jihadisten aktiv sind. (APA, 18.9.2016)