STANDARD: Frau Nöstlinger, Sie bezeichnen sich als in der "Wolle sozialdemokratisch gefärbt". Es gibt seit 2006 sozialdemokratische Kanzler. Sind Sie damit zufrieden?

Nöstlinger: Eigentlich bin ich gar nicht so unzufrieden damit. Ich bin 1936 auf die Welt gekommen und habe den ganzen Krieg über gehört, wir müssen verlieren, denn dann kommt wieder die Sozialdemokrazie, wie es mein Großvater ausgesprochen hat. Das klang für mich wie das totale Paradies. Da bin ich schon ein bisschen enttäuscht, dass das nicht gekommen ist.

STANDARD: Finden Sie die Sozialdemokratie noch glaubwürdig, wenn Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer Aufsichtsratschef bei Novomatic wird, sich Werner Faymann als Lobbyist hat eintragen lassen und ins Immobiliengeschäft eingestiegen ist und Kanzler Christian Kern Designeranzüge trägt?

Nöstlinger: Das darf doch jeder tragen. Mein Schwiegersohn trägt auch Designeranzüge und ist ein aufrechter Linker.

Oberhauser: Kreisky hatte Maßschuhe, über den schimpft keiner.

Nöstlinger: Und jetzt sind auch Gusenbauer und Faymann nicht mehr Kanzler. Was sollen sie denn sonst machen? Lokomotivführer?

Schriftstellerin Christine Nöstlinger und Ministerin Sabine Oberhauser bleiben der Sozialdemokratie treu.
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STANDARD: Aufsichtsratschef bei einem Glücksspielkonzern klingt wenig sozialdemokratisch.

Oberhauser: Schauen wir mal, was er daraus macht.

Nöstlinger: Vielleicht war auch eine gewisse Enttäuschung dabei, wenn ich das psychologisch betrachte: "Ihr wart gemein, habts mich gern."

STANDARD: Haben Sie die Hoffnung, dass die Sozialdemokratie unter Christian Kern wieder einen Aufschwung erlebt?

Nöstlinger: Nein, die habe ich nicht. Eine Person allein kann das nicht machen. Der Rechtsrutsch ist ja nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa, den kann Kern allein nicht aufhalten. Es ist unheimlich schwierig in diesen Zeiten. Wenn ich eine Antwort wüsste, täte ich mich politisch stärker engagieren.

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STANDARD: Die Stimmung in der Bevölkerung ist aufgeheizt. Haben Sie die Republik schon einmal so gespalten erlebt?

Nöstlinger: Ich brauche nur an den Wahlkampf Waldheims denken. Da ist das jetzt ein Klacks dagegen, die paar Kuverts, die nicht picken.

Oberhauser: Ich erlebe die Republik nicht als instabil, doch es gibt zwei Republiken. Die Menschen leben zum Teil in einer Parallelwelt. Eine nicht unbedeutende Strömung versucht, die Republik als instabil darzustellen. Wenn jemand verbreitet, dass die defekten Kleber an den Wahlkuverts beabsichtigt sind, damit die Wahl nicht stattfindet, muss man gegen die Verschwörungstheorien halten.

STANDARD: Trägt die Entscheidung der Höchstrichter dazu bei?

Nöstlinger: Der Verfassungsgerichtshof hat so entschieden, das muss man zur Kenntnis nehmen. Ich hätte anders entschieden. In der Verfassung steht der Indikativ, die Höchstrichter nehmen aber den Konjunktiv – wenn es wahlentscheidend sein könnte.

Oberhauser: Es macht die Situation für Österreich nicht leichter. Durch den Konjunktiv bekommen die Verschwörungstheorien einen neuen Drive, etwa dass manipuliert wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat aber festgehalten, dass es keine Anhaltspunkte für Manipulationen gab. Wir leben in einer sehr sicheren und guten Welt, das müssen wir auch vermitteln.

STANDARD: Warum findet dann die rechtspopulistische Angstmache so viel Zuspruch?

Oberhauser: Weil die Ansagen einfach sind. Es gibt einen Schuldigen, und der ist nicht von uns, sondern von den anderen. Ein Außenfeind ist immer gut.

Nöstlinger: Nicht jeder, der gute Bildung genossen hat, ist davor gefeit – aber er durchschaut den größten Blödsinn leichter, wenn er gebildet ist.

Oberhauser: Es geht darum, Informationen kritisch zu hinterfragen. Hofer bezieht sich ja darauf, dass wir seine Wähler als ungebildet diffamieren. Das hängt aber gar nicht von den Schulabschlüssen ab. Auch soziale Bildung, dass zu Hause diskutiert wird, spielt eine Rolle. Doch Bildung gibt Sicherheit. Wir wissen, dass gut ausgebildete Menschen gesichertere Positionen haben und nicht so große Angst vor einem Außenfeind haben."

"Nicht jeder, der gute Bildung genossen hat, ist davor gefeit –aber er durchschaut den größten Blödsinn leichter. "
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STANDARD: Finden Sie, dass man FPÖ-Wähler als dumm und ungebildet bezeichnen darf?

Nöstlinger: Was heißt dürfen? Es ist nicht nützlich. Bei manchen, die ich persönlich kenne, denke ich mir das schon. Ich würde das aber sicher nicht verallgemeinern.

STANDARD: Sabine Oberhauser ist auch Frauenministerin. Sind Sie Feministin, Frau Nöstlinger?

Nöstlinger: Ich kann mich nicht als Feministin einordnen, weil ich nie in der feministischen Bewegung aktiv war. Natürlich braucht es heute noch den Feminismus. Ich ärgere mich oft wahnsinnig, weil es so viele junge Schnepfen gibt, die sich hinsetzen und sagen: "Wir brauchen keinen Feminismus mehr, denn wir haben schon die ganze Gleichberechtigung erreicht." Das ist bloß diese Solidarität mit dem anderen Geschlecht: Ich schmeiß mich auf die andere Seite, und dann geht es mir besser.

Oberhauser: Wir haben uns die Wörter zu Unwörtern machen lassen, dabei müssten wir sie stolz vor uns hertragen. Bei emanzipiert und Emanze fällt es am stärksten auf. Jede Frau würde über sich sagen, dass sie emanzipiert ist, aber Emanze, was einfach nur das Hauptwort ist, will sich keine nennen.

STANDARD: Frau Nöstlinger, was ist für junge Frauen heute anders?

Nöstlinger: Frauen einer gewissen Schicht haben es sicher leichter als ich in meiner Jugend. Das gilt aber weder in der Upperclass noch in der Unterschicht. Als ich das erste Mal geheiratet habe, hat mein Mann die Vormundschaft für mich übernehmen müssen, weil ich noch nicht 21 war. Ich bin schwanger geworden, und dann saß ich in der Falle. Ich habe mich nie als Hausfrau entworfen, aber was hätte ich tun sollen? Kindergartenplätze gab es keine. Ich bin mit dem Besen dagestanden und habe in einem Kochtopf Windeln ausgekocht. Es war wahnsinnig schwierig, sich aus dieser Situation zu befreien, obwohl ich alle Voraussetzungen hatte. Ich hatte Matura gemacht, hatte eine Ausbildung. Die Schwangerschaft hat das zunichtegemacht, deshalb habe ich mich eingesperrt gefühlt.

STANDARD: Was fehlt heute in der Frauenpolitik?

Nöstlinger: Es ist eine Querschnittmaterie und hat mit jedem anderen Ressort zu tun. Viele meiner Freundinnen klagen darüber, dass es keine eigene Ministerin gibt.

Oberhauser: Aus dieser Wahrnehmung heraus verstehe ich das. Aber in der Realpolitik sieht es anders aus: Mein Budget sind 0,006 Prozent des Gesamtbudgets. Derzeit kann ich nicht einmal die Pflicht erfüllen, aber ich hätte noch gerne Platz für die Kür.

STANDARD: Ein Thema, das unter Frauenpolitik läuft, ist die Debatte um Vollverschleierung.

Nöstlinger: Das Thema haben wir so dringend gebraucht wie einen Kropf. Will man die ganzen verschleierten Damen vergrämen, die im Grandhotel, im Bristol oder in Zell am See absteigen? Ich wohne in der Brigittenau. Dort gibt es zwei vollverschleierte Frauen, soweit ich sie an ihrem Schritt erkennen kann, das Gesicht sehe ich ja nicht. Natürlich finde ich es befremdlich, ich wüsste nicht, wie ich mit ihnen in Kontakt treten soll. Aber deswegen bin ich nicht für ein Verbot. Nicht alles, was mir nicht gefällt, kann ich verbieten. Was erreichen wir damit? Dass die Frauen gar nicht mehr außer Haus gehen können? Ist das ein Erfolg?

Oberhauser: Es ist ein Nebenschauplatz, der uns von Außenminister Sebastian Kurz aufgedrängt wurde. Es gibt 180 Burkaträgerinnen in Österreich, dann noch die Touristinnen. Trotzdem sehe ich beide Seiten: Verdrängen wir mit einem Verbot alle Burkaträgerinnen in den privaten Bereich? Aber auch die Frage, wie wir mit ihnen in Kontakt treten können. Das ist ein extrem konfliktbehaftetes Thema.

"Ich erlebe die Republik nicht als instabil, doch es gibt zwei Republiken."
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STANDARD: Sind Sie für ein Verbot?

Oberhauser: Ich bin gegen ein generelles Verbot. In manchen Bereichen kann es möglich sein, vor Gericht ist es schon der Fall. Aber jeder, der die Bilder aus Nizza im Kopf hat, wo Polizisten eine Frau im Burkini zwingen, sich auszuziehen, muss sich ernsthaft überlegen, ob er ein Burkaverbot in Österreich will.

STANDARD: Minister Kurz' Vorschlag soll der Integration dienen. Was schlagen Sie vor?

Oberhauser: Man muss die Frauen auch in ihren Lebenswelten ansprechen, in Kindergärten, auf Spielplätzen, und versuchen, sie aus den Communitys herauszuholen. Die gemeinsame Sprache ist dabei sehr wichtig. Bei uns läuft es aber recht gut, wenn ich Österreich mit Belgien oder Frankreich vergleiche. Doch man darf die österreichische Bevölkerung auch nicht mit Toleranz überfordern, einen gemeinsamen Dialog schaffen und versuchen, Gleichwertigkeit herzustellen.

Nöstlinger: Man muss auch bereitstellen, was man fordert, also genügend Deutschkurse organisieren. Wer einen Asylantrag gestellt hat und auf einen Bescheid wartet, hat keinen Anspruch darauf. Der muss den Kurs selbst zahlen, oder ein Pate zahlt ihn. Die meisten wollen Deutsch lernen und können es aber im Moment nicht.

STANDARD: Frau Nöstlinger, für Sie ist ein "gewisser Prozentsatz der Leute einfach böse". Woran machen Sie das fest?

Nöstlinger: Das weiß ich schon länger. Das ist ja nicht nur in den sozialen Medien so, wo Menschen Hasspostings schreiben. Wie viele Leute tatsächlich voll Hass sind, weiß ich nicht, aber es wirkt, als wären es sehr viel mehr.

STANDARD: Woher kommt der Hass?

Nöstlinger: Das kommt schon in Doderers Merowingern vor: "Die Wut des Zeitalters ist tief." Sie wird immer tiefer.

Oberhauser: Der Hass und die direkte Aggression sind sichtbarer geworden. Vielleicht ist die Hemmschwelle gesunken.

Nöstlinger: Wie viele wirklich die Hasspostings schreiben, wissen wir nicht. Die Verschwörungstheorien gab es ja früher auch, aber sie haben sich nicht so schnell verbreitet. Am Stammtisch wurde das nur von ein paar Bier trinkenden Männern gehört.

STANDARD: Gewisse Verschwörungstheorien werden auch bewusst von Politikern aufgegriffen.

Oberhauser: Von dem einen Politiker, von Heinz-Christian Strache, wird es aufgenommen und auch bewusst gestreut. (Marie-Theres Egyed, Video: Maria von Usslar, 17.9.2016)