Wien – Die Betonsteine wurden schon in der Sargfabrik verwendet. Damals wurde auf ihnen das Holz für die Sargerzeugung gestapelt. Heute säumen sie die Pflanzenbeete des Freiluftsupermarkts in Wien-Liesing. Auf der Fläche neben der denkmalgeschützten einstigen Fabrik in der Breitenfurter Straße, die nun das Kulturzentrum F23 beherbergt, werden bis Ende 2017 auf 500 Quadratmetern Kartoffeln, Kürbisse, Paprika und andere Gemüsesorten angebaut. Wer ernten möchte, kann das selber tun: Er oder sie bekommt ein Papiersackerl und kann gegen eine freiwillige Spende neben Gemüse auch frische Eier von den freiluftsupermarkteigenen Hühnern mitnehmen.

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Hinter dem Projekt steht das Planerkollektiv Bauchplan. Den Freiluftsupermarkt begreift man dort als einen Baustein des Konzepts "Agropolis", mit dem man 2009 einen Ideenwettbewerb in München gewonnen hat: Mit dem Ernten in der Stadt sollte das damals noch unbekannte Stadtentwicklungsgebiet Freiham mit einer Identität versehen werden.

Der Markt wurde 2015 gestartet – und schaffte es zeitgleich nach Wien, in ein Stadtentwicklungsgebiet, das ähnlich Freiham wenig Beachtung findet: Im Carrée Atzgersdorf sollen bis 2020 1500 Wohnungen gebaut werden. Auch auf dem Sargfabrikareal, das sich im Eigentum des Wohnfonds befindet, sollen ab 2018 bis zu 900 Wohnungen entstehen.

Grätzel "kulturell vorprägen"

Um Einwohner anzulocken, setzt die Stadt nicht nur auf Fragen der Verkehrsanbindung und des Schulbedarfs, sondern auch auf das Image des neuen Grätzels. Ziel sei, dass die Menschen nicht das Gefühl haben, sie würden "hinausziehen" in ein leeres Stadtviertel, sondern dass sie "hineinziehen" in ein "kulturell vorgeprägtes" Grätzel, mit dem sie bereits etwas verknüpfen, sagt Marie-Theres Okresek von Bauchplan. Den Markt, der von der Baugenossenschaft Wien Süd mitfinanziert wird, will sie nicht als ein weiteres urbanes Gemeinschaftsgartenprojekt verstanden wissen. Er sei ein "integratives Stadtentwicklungsprojekt", bei dem es – anders als beim Urban Gardening – nicht darum gehe, Freiraum neuartig zu nutzen, sondern darum, ein geschlossenes Areal zu öffnen und zum Aufenthaltsort zu machen.

Foto: Heribert Corn

Neu sei auch, dass man sich nicht selbst ums Pflanzen und Pflegen kümmern muss – das übernimmt Bauchplan. Wie in einem Supermarkt kann man vorbeikommen und mitnehmen, was man braucht. Die Motivation zum Selbermachen sei aber groß. Neben Flüchtlingen aus der Unterkunft in der Ziedlergasse kommen auch Schulklassen oder Kindergartengruppen, die etwa lernen wollen, wie man Erdäpfel erntet. Zum Erntefest vergangene Woche kamen hunderte Besucher.

Selbsterobertes Grün

Geografin Yvonne Franz, die urbane Transformationsprozesse erforscht, spricht vom "Image des selbsteroberten Grün". Sie sieht das Projekt als "Experiment in geschütztem Rahmen": Man versuche nicht nur den Stadtteil mit einer "Identität aufzuladen", sondern auch die ansässige Bevölkerung mit möglichen neuen Bewohnern in Kontakt zu bringen. Das sei bisher in der Stadtentwicklung kaum als notwendig erachtet worden. Dabei könnten so Vorurteile abgebaut, Sorgen zerstreut und Fragen beantwortet werden – ganz nebenbei, beim gemeinsamen Garteln. Von Vorteil sei, dass die Kosten für diese Form von Branding, anders als bei kostspieligen Marketingkampagnen, vernachlässigbar seien.

Für Bauchplan stellt sich die Frage, wie das Zwischennutzungsprojekt langfristig nachwirken kann; auf Atzgersdorf sowie auf künftige Stadtplanung. Kooperationen seien angedacht. Interessant seien auch andere Grätzel mit "abgenutztem Image".

Für Franz ist die Nachwirkung eine Frage von Glaubwürdigkeit und Wertschätzung. Wenn man Menschen einlade, einen Raum zu erobern, davon aber nichts übrigbleibt, würden Erwartungshaltungen enttäuscht. Sie schlägt vor, "Erinnerungsorte" zu schaffen, also etwa Straßen nach dem Freiluftsupermarkt zu benennen. (Text: Christa Minkin, Video: Michael Luger, 15.9.2016)