In einer großangelegten Analyse beschäftigt sich der Economist, eine der besten Zeitschriften der Welt, mit der Lüge in der Politik. Unehrlichkeit sei zwar nicht neu, aber die Art und Weise, wie manche Politiker heute lügen, und die dadurch angerichtete Verwüstung seien besorgniserregend. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump behauptet zum Beispiel, dass Präsident Obama und die demokratische Kandidatin Hillary Clinton die Terrororganisation IS gegründet hätten. Solches Geschwätz nennen die Amerikaner "post-truth politics", Behauptungen, die "gefühlsmäßig wahr" zu sein scheinen, aber in Wirklichkeit sich von der Realität völlig losgelöst haben. Eine Politik, bei der die Grenze zwischen richtig und falsch, zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmt.

Trump mag der lauteste Praktiker der "post-truth politics" sein, aber er ist keineswegs der einzige! Die Brexit-Propagandisten konnten im Juni in Großbritannien mit Slogans gewinnen, die besagten, dass die EU-Mitgliedschaft das Land wöchentlich 350 Millionen Pfund kostet – diese Summe könnte man für die Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdienstes verwenden – und dass die Türkei bis 2020 der EU beitreten würde. Übrigens ergab eine kürzliche Meinungsumfrage, dass die Briten die Friseure und den "Mann auf der Straße" zweimal vertrauenswürdiger betrachten als Unternehmer, Journalisten und Regierungsminister.

In der Türkei behaupteten Regierungspolitiker, dass die Protestdemonstrationen im Gezi-Park 2013 von der Lufthansa finanziert worden seien, um den Bau eines neuen Flughafens zu verhindern, und dass den jüngsten Putschversuch die CIA organisiert habe. In Polen läuft eine massive Regierungskampagne mit der Unterstellung, der in einem Flugzeugabsturz verunglückte Staatspräsident Lech Kaczynski sei in Wirklichkeit von den Russen ermordet worden.

Für "postfaktische" Vereinfachungen und Unterstellungen gibt es freilich zahlreiche Beispiele auch von Putins Ukraine-Politik und Erdogans Wutausbrüchen gegen die freie Presse bis zu dem panischen Aktionismus des CSU-Chefs Horst Seehofer und dem Vorwurf Viktor Orbáns, Angela Merkel betreibe eine Art "moralischen Imperialismus". Die weltweite Flüchtlingskrise hat der Realitätsverdrehung einen gewaltigen Auftrieb verliehen. Deshalb hat die deutsche Kanzlerin kürzlich im Bundestag zu Recht gewarnt: "Wenn wir anfangen, dabei mitzumachen, dass Fakten beiseitegewischt werden können, dann sind verantwortbare und konstruktive Antworten in der Sache nicht mehr möglich. Wenn wir anfangen, uns sprachlich und tatsächlich an denen zu orientieren, die an Lösungen nicht interessiert sind, verlieren am Ende wir die Orientierung."

Wegen ihres vermeintlichen "Starrsinns" riskiert Merkel den offenen Aufstand in ihrer eigenen Partei. Gibt es aber jemanden, der ihr die Kanzlerschaft ernsthaft streitig machen könnte? Seehofer beschwört mit schrillen Tönen den Untergang des Landes. Die totale Ausrichtung der CSU auf Leitsätze der rechtsradikalen xenophoben AfD würde zum politischen Selbstmord der CDU/CSU führen und die Stabilität der deutschen Demokratie gefährden. (Paul Lendvai, 12.9.2016)