Die mächtigen Schatten am Horizont künden von einer ins Ungewisse führenden Schiffspassage. Auf ihr reisen die unterschiedlich ramponierten Geschöpfe des Volkstheater-"Narrenschiffs".

Foto: Volkstheater / Lupi Spuma

Wien – In ihrem Gesellschaftsroman Das Narrenschiff (1962) lässt es die US-amerikanische Autorin Katherine Anne Porter auf einem Transatlantikdampfer brodeln. Sie führt bei der Überfahrt von Veracruz nach Bremerhaven 1931 Menschen unterschiedlicher Nationalität, Ethnie und Religion, unterschiedlichen Geschlechts und sozialer Schicht zusammen. Auch Schönheitsgrad und Wachstumseigenheiten erzeugen hier Differenz. Herr Glocken etwa ist als "ein Buckliger" gebrandmarkt und tritt in der berühmten Verfilmung von Stanley Kramer (mit Simone Signoret und Oskar Werner) als Kleinwüchsiger in Erscheinung, der Geringschätzung erleiden muss.

Dieses des Öfteren mit Thomas Manns Zauberberg verglichene Zeitenwendepanorama eröffnete in einer hauseigenen Fassung (von Regisseur Dušan David Pařízek) am Freitag die zweite Spielzeit am Volkstheater unter der Leitung von Anna Badora.

Keine schlechte Idee, denn bei genauer Betrachtung scheint der Roman trotz seiner mammuthaften 700 Seiten ein Idealfall für das Theater zu sein: Illustre und tragisch aufeinander reflektierende Figuren tragen, konzentriert auf einem Schauplatz und in einer die bevorstehende Machtübernahme der Nationalsozialisten spürbar machenden, nervösen Umbruchstimmung, ihre Kämpfe aus. Und das alles umgeben von der Melancholie des endlosen Meeres.

Mit diesem alten Schiff, dessen Verschleißerscheinungen nicht zu übersehen sind, hält Dušan David Pařízek gewiss einen Spiegel in die europäische Mitte, wo der Wert von Differenz und Vielfalt gerade auf Messers Schneide verhandelt wird. Dabei wächst die Figur des Deutschen Siegfried Rieber (Rainer Galke) zum polternden Populisten an, in dessen Windschatten sich einige wohlfühlen. Nur mit einem betretenen Lächeln wird sein Vorschlag quittiert, den unter Deck zusammengepferchten spanischen Arbeitssklaven, die auf Regierungskosten aus Kuba zurück nach Teneriffa deportiert werden, "den Gashahn aufzudrehen".

Dem auf dem Oberdeck kultivierten Antisemitismus sind insbesondere der jüdische Händler Löwenthal (Lukas Holzhausen) und der mit einer Jüdin verheiratete Geschäftsmann Wilhelm Freytag (Gábor Biedermann) ausgeliefert.

Politische Verliererinnen

Von Alkohol und Drogen gefangen gehalten, gehören die freiheitsliebende US-Amerikanerin Mary Treadwell (Anja Herden) und nicht zuletzt die aristokratische Revolutionärin La Condesa (Stefanie Reinsperger) zu den politischen Verliererinnen dieser Zeit. Schiffsarzt Dr. Schumann (still: Michael Abendroth) rät zur "Aussöhnung mit der Gesellschaft" und ist in Wahrheit selbst eine vor der Menschenverachtung einknickende Seele.

Pařízek (auch Bühnenbild) hat den Roman entlang dieser politischen Implikationen klug verdichtet. Er verzichtet auf einen atmosphärischen Schiffsschauplatz samt Zarzuela-Folklore und geht puristisch vor. Von seitlich aufgereihten Schminktischen (das Rudiment der Kabinen) treten die Schauspieler auf den mittigen Schiffsdielenboden. Wenn der Dampfer einen Hafen verlässt, so grölt jemand laut wie ein Nebelhorn in die Soffitten, fällt das Wort "Gott" erzeugt der Souffleur (Jürgen Weisert) Wellblechdonner.

Das hat Charme und macht Sinn. Bei der Uraufführung am Freitag wurde dieses Lowtech-Theater allerdings Opfer der außerordentlichen Hitze im Saal. Im vielen Fächeln – auch unter den Akteuren – versackten die filigranen szenischen Manöver, um die es ja geht. Denn Das Narrenschiff ist ein Ensemblestück, in dem jede Figur zählt und sich die Konturen der Einzelnen erst in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber schärfen – oftmals mit erschütternder Erkenntnis.

Erst gegen Ende hin vermag sich der Abend, dem Raumklima zum Trotz, aus der Erschlaffung zu erheben und wird – im Lichte der Overheadfolien – kenntlich als ein Geisterschiff, das nirgendwo ankommen wird. Wohlweislich hatte Pařízek die Figur des Kapitäns von Anfang an gestrichen. Es darf totengetanzt werden. Freundlicher Applaus. (Margarete Affenzeller, 11.9.2016)