An die 20.000 Menschen protestierten jüngst in Paris nach der Ermordung eines 49-jährigen Familienvaters durch Straßenräuber.

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Verlassen liegt die Rue des Écoles da, ein Geruch von Benzin und frischem Brot hängt in der Luft. In dieser Seitenstraße von Aubervilliers (nördlich von Paris) starb vor einem Monat Chaolin Zhang. Der 49-jährige Schneider in einem der zahllosen chinesischen Nähateliers von Aubervilliers hatte mit einem Freund ein Feierabendbier getrunken und wurde von drei – mittlerweile verhafteten – Kleinkriminellen erschlagen.

Wo sich der Überfall ereignete, will hier niemand wissen, nicht einmal der chinesische Wirt im Bistro Le Concorde. Andere Asiaten machen auf dem Trottoir einen weiten Bogen um Passanten und sagen, bevor man auch nur eine Frage gestellt hat, "je ne sais pas" – ich weiß nicht.

Ein Straßenreiniger, der gerade gegen die farbschillernden Schlieren einer gewaltigen Benzinlache kämpft, verweist beim Stichwort "chinois" auf die Fassade eines Kleinunternehmens namens La Parisienne de Baguettes, aus dem der Brotgeruch stammt. "Das war eine leerstehende Fabrik. Kürzlich wurde sie von einem Chinesen übernommen. Jetzt läuft das Geschäft." Den Daumen am Zeigefinger reibend, fügt der städtische Angestellte an: "Die sind nicht zu beklagen."

Großdemonstration in Paris

Chaolin Zhang kann sich nicht mehr beklagen. Der vor zwölf Jahre nach Frankreich eingewanderte Familienvater kannte die Täter nicht und wurde umgebracht, weil er kein oder zu wenig Bargeld bei sich hatte. "Sein Tod war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte", meint rückblickend Tamara Lui vom Pariser Verein junger Chinesen. Nach zwei spontanen Protestzügen im August demonstrierten in der Vorwoche rund 20.000 Chinesen oder Franzosen asiatischer Abstammung in Paris.

"Zhang Chaolin war nach Frankreich gekommen, um ein besseres Leben zu suchen, mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit", rief ein Sprecher auf Chinesisch in die Menge.

Schon viermal überfallen

Einer der beiden Söhne des Ermordeten erzählte, er selbst sei in der Straße schon viermal attackiert worden. "Zwei Monate nach meiner Ankunft in Frankreich entrissen sie mir mein Handy. Ein anderes Mal verfolgten mich fünf Typen, um mir die zehn Euro zu nehmen, die ich bei mir hatte. Einmal entrissen sie mir meine Jacke, die zum Glück nur eine Markenfälschung war."

Zuvor hatten fünfzehn Lokalpolitiker asiatischer Abstammung aus dem Raum Paris in einem Zeitungsbeitrag gefragt: "Wer wird der Nächste sein?" Dazu schrieben sie: "Chaolin Zhang ist tot, weil Chinese, Opfer des Irrglaubens, dass ein Chinese reich sei." Das sei wie der bekannte Fall des jüdischen Telefonverkäufers Ilan Halimi, der 2006 in Paris-Bagneux entführt und langsam getötet worden war, weil die Eltern kein Lösegeld zahlen konnten.

Hinter der tödlichen Attacke verberge sich eine Form des Rassismus, schrieben die Autoren. "Trotz der politischen Korrektheit darf man über die Asiaten in Frankreich lachen, über ihr Aussehen, ihre Hautfarbe, ihre Schlitzaugen, ihren Akzent."

Zweisprachige Baumärkte

Die Rue des Écoles liegt allerdings weit weg vom eigentlichen Chinatown Aubervilliers'. Der Weg dorthin führt vorbei an Baumärkten, die auf Französisch wie Chinesisch angeschrieben sind, islamischen Halal-Metzgereien und Bistros mit fast so vielen Nationalitäten wie Kunden.

Im "Pont de Stains" weiß die chinesische Kellnerin nichts von der jüngsten Demo. Etwas weiter, im Kleidergeschäft Chang Long, legt der Inhaber sein Bügeleisen nieder und verfolgt genau die Handbewegungen des Eintretenden. Ja, er sei schon überfallen worden, bestätigt er in mühseligem Französisch. Auf der Polizeiwache habe er dann zuerst einmal zwei Stunden gewartet, bis man ihn auch nur angehört habe.

Ein paar Schritte weiter erzählt ein Textilverkäufer, in Aubervilliers sei es fast so schlimm wie im Stadtzentrum von Paris, wo die chinesischen Touristen laufend überfallen würden. "Ich nehme nie viel Bargeld mit, aber immer ein wenig, damit die Diebe nicht wütend werden, wenn sie nichts finden."

Die meisten aus Ostchina

Wu stammt wie seine meisten Landsleute in Aubervilliers aus dem Großraum von Wenzhou an der Ostküste Chinas. "Dort konnte ich die Haustür offen lassen, ohne dass etwas wegkam. Hier in meinem Wohnblock kenne ich nicht einmal die Nachbarn." Warum er trotzdem nach Frankreich gekommen ist? "Wegen der Freiheit, die in China sehr eingeschränkt ist", meint Wu. "Aber es stimmt schon, hier zahlt man auch seinen Preis dafür." (Stefan Brändle aus Aubervilliers, 12.9.2016)