Studierende vor den historischen Fotos von Mario Savio und dem Free Speech Movement im gleichnamigen Café in Berkeley: Die wilden Zeiten sind vorbei – vorerst.

Foto: Michael Freund

Es ist eine Cafeteria, doch es sieht aus wie ein großer Arbeitsraum. Studenten sitzen meist allein vor aufgeklappten Laptops, das Essen liegt daneben, ausgepackte Sandwiches, Pappbecher voll zweifelhaften Kaffees, Red-Bull-Dosen: ein Vormittag im Free Speech Movement Café der Universität von Kalifornien in Berkeley.

An den Wänden hängen übergroße Schwarz-Weiß-Reproduktionen von Fotos dramatischer Ereignisse. Texte auf Tafeln aus Metall erinnern an jene Tage vor einem halben Jahrhundert, welche dem Café den Namen gaben, an die großen Zeiten der Bewegung für Bürgerrechte und Redefreiheit, gegen Vietnamkrieg und Armeerekrutierung auf dem Campus.

Eine Tafel ist Mario Savio (1943-1996) gewidmet, der mit seinen Reden die Studentenbewegung entfachte und in Amerika so bekannt wurde wie später Dany Cohn-Bendit in Frankreich oder Rudi Dutschke in Deutschland und eigentlich beide in ganz Europa.

Obwohl sie regelmäßig neben den Tafeln Schlange stehen, kann keiner der Studenten, die hier sitzen, mit dem Namen Mario Savio etwas anfangen. "Es gibt auf dem Campus so viele Plakate und Zettel", sagt Katrina, Politikstudentin im vierten Jahr, "dass ich nirgendwo mehr hinschaue." Die Zeit, als "Berkeley" für Politisierung, Studentenrevolte und Massenbewegung stand, ist längst versunken, es scheint keinen größeren Kontrast als den zwischen den damaligen und den einsam vor sich hin arbeitenden heutigen Studierenden zu geben.

Was bedeutet ihnen Politik im jetzigen Amerika, was können sie mit dem Erbe der bewegten Jahrzehnte anfangen?

Für Amber, Studentin der Geschichte kurz vor dem Abschluss, war es vor allem der Vietnamkrieg, der die Aktivisten gegen die Regierung aufgebracht hat. Es sei heute kein Thema mehr, ob man regierungskritisch sein dürfe oder nicht. "Wir gehen davon aus, dass es selbstverständlich möglich ist." Das Problem sei eher, dass man sehr aufpassen müsse, nichts politisch Unkorrektes zu sagen.

Man habe zum Beispiel selbstverständlich gegen Trump zu sein. "Ich habe einige Freunde, die sind Trump-Anhänger, und denen wird nun gesagt, ihre Meinungen seien es nicht wert, angehört zu werden." Darum zögerten viele, fügt sie hinzu, sich überhaupt zu größeren politischen Fragen zu äußern.

Jack, Hauptfach Englisch im dritten Jahr, stimmt ihr zu. "Die linksliberalen Bewegungen sind tonangebend, nationale Politik spielt sich allerdings weniger offen auf dem Campus ab, dafür in den sozialen Medien und im "Daily Californian" (der Uni-Zeitung) online."

Frage nach dem Politischen

Für die Gaststudentin Giang aus China ist das Ausmaß offener Diskussionen dennoch überraschend. "Wir reden an den Unis zu Hause auch über Politik", sagt sie, "aber es werden daraus gar keine Konsequenzen gezogen."

Welche Themen werden aber überhaupt als politisch gesehen und bewegen die Studenten? Für Melody, Geschichtsstudentin im dritten Jahr, sind es heute vor allem inneruniversitäre Angelegenheiten. "Es ging vor einiger Zeit um wieder einmal erhöhte Studiengebühren", sagt sie. In Kalifornien wohnhafte Studierende zahlen an der staatlichen Uni mittlerweile 13.000 Dollar jährlich, solche von außerhalb rund 33.000 Dollar. Da seien Gebäude besetzt worden, erzählt Melody. Auch die Black-Lives-Matter-Bewegung habe mehrmals lautstarke Proteste durchgeführt und das Golden Bear Café blockiert, ohne dass die Verwaltung eingegriffen habe.

Das mag sein, wirft Katrina ein, doch die Proteste dürften den Ruf der Uni nicht gefährden. "Fälle von sexueller Belästigung und von Vergewaltigung werden unter den Teppich gekehrt oder bagatellisiert. Das Ansehen von Berkeley und damit die Einkommen durch Studiengebühren und Stiftungen stehen ja auf dem Spiel."

Seit mehreren Jahren verschiebt sich das Verständnis von Politik zunehmend auf die Themen Race und Gender. Identitätspolitik werde großgeschrieben, sagt auch Mark, ein Latino, der Politikwissenschaft studiert. Allerdings vermisst er praktische Konsequenzen: "Es gibt die Ethnic Studies. Ansonsten fühle ich mich auf dem Campus nicht repräsentiert. Seit Trump ist es schlimmer geworden. Jetzt gibt es zwar Solidarität innerhalb der Latino-Community, aber nicht so sehr vonseiten der anderen Studierenden."

Michael Pollan, seit 14 Jahren Journalismus-Professor in Berkeley, sieht auf seiner wie auch auf anderen US-Universitäten viel Symbolpolitik. "Es geht zum Beispiel um den Namen eines Gebäudes oder eines Departments – welche Bedeutung damit transportiert wird." Das sei auch Politik, aber ganz anders als zu seiner Studienzeit. Er vermisst auch intensive Diskussionen über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, "doch das kann sich steigern, je näher der 8. November rückt".

Symbole wie damals

Das Ansehen der Uni, Symbolpolitik: Das waren im Grunde auch im September 1964 die Streitpunkte, als die Auseinandersetzungen begannen. Da ging es um einige Quadratmeter Gehsteig am Sather Gate, dem schmiedeeisernen Torbogen am Eingang zum Campus, auf denen die Studenten wie gewohnt Tische aufstellen und für diese und jene politische oder sonstige Causa werben wollten. Die Uni-Verwaltung zählte den Boden zu ihrem Hoheitsgebiet und verbot auf ihm kurzerhand alle nichtuniversitären Meinungsäußerungen.

Rede von Mario Savio an seinem 22. Geburtstag, 19. Dezember 1964, anlässlich der Unisenatsentscheidung pro FSM
Intelligent Channel

Überraschend viele Studenten schlossen sich dem Protest gegen diese Einschränkung an. Sie beriefen sich dabei auf den ersten Verfassungszusatz, der unter anderem das Recht auf freie Meinung garantiert. Je nachdrücklicher die Universität politische, vor allem linke Formen freier Rede verbannen wollte, desto stärker wurde die Bewegung.

Als im Oktober ein Polizeiauto auf dem Hauptplatz der Uni vorfuhr, wurde es von tausenden Studenten eingekesselt und 30 Stunden lang am Weiterfahren gehindert. Das Foto, das Mario Savio bei seiner ersten großen Rede vom Dach des Wagens zeigt, geriet zur Ikone des Free Speech Movement (FSM) und hängt natürlich heute auch im Café.

Zermürbender Kampf

Weitere Reden sollten folgen. In seiner eindrücklichsten rief er zum Kampf gegen "die Maschine" auf, also die autokratische Verwaltung, undemokratische Strukturen, das Land, das gerade drauf und dran war, in einen mörderischen Krieg zu schlittern, überhaupt den Moloch Staat. Wenn diese Maschine "einen so krank im Herzen macht, dass man nicht mehr mitmachen kann, auch nicht passiv, (dann muss man) seinen Körper in das Getriebe und die Hebel der Maschine werfen, in den ganzen Apparat, und man muss sie stoppen!"

Savio konnte zumindest die Maschine Berkeley stoppen, sogar zum Einlenken zwingen – bis zu 20.000 Studenten, zwei Drittel aller Inskribierten, beteiligten sich an Demos, Sit-ins, passivem Widerstand. Was an der Westküste begann, gärte bald in anderen Unis, sogar in der Ivy League der großen Namen, gerade dort.

Doch der Kampf zermürbte nicht nur Savio persönlich – er zog sich zurück, studierte anderswo fertig, unterrichtete gegen Ende seines Lebens Mathematik und Philosophie an der Sonoma State University und starb jung an den Folgen eines Herzinfarktes.

Free Speech Cloud Film #FSM50, ML King, Mario Savio, von UC Berkeley produziert.
UC Berkeley

Das FSM zerfiel noch im Winter 1964/65. Radikalere, dogmatischere Gruppen gingen daraus hervor, andere Beteiligte wandten sich der aufblühenden Drogenkultur im benachbarten San Francisco zu. Die Berkeley-Unruhen hatten auch unerwartete Nebenwirkungen. Das Versprechen, das Uni-System Kaliforniens von Friedensaktivisten und radikalen Studenten und Professoren zu säubern, half dem Schauspieler Ronald Reagan, 1967 Gouverneur des Staates zu werden.

Zu Ehren der Galionsfigur

30 Jahre später allerdings gab es die UC Berkeley immer noch als relativ liberale Bastion, und die Verwaltung beschloss, ein Café mitten auf dem Campus nach der seinerzeit so verabscheuten Bewegung zu benennen und ihre Galionsfigur zu ehren.

Spätsommer 2016, andere Zeiten: In einer Bushaltestelle am Bancroft Way hängt ein Plakat jener Institution, die früher einmal von den Universitäten vertrieben wurde, der Rekrutierungsstelle für Armeeoffiziere. "It's not for everyone", wirbt das UC Berkeley Reserve Officers' Training Corps, "just for the leaders of tomorrow."

Ein junger Mann steht unter dem ehrwürdigen Sather Gate und hält eine Rede – vielleicht hat auch Mario Savio so begonnen. In der Hand hält er ein kleines Plakat, auf dem "Rich Men Rule" steht, und er wettert gegen die Zustände im Land. Achtlos strömen die Studierenden an ihm vorbei. Noch hört ihm niemand zu. (Michael Freund, 10.9.2016)

50-Jahr-Feier, Herbst 2014 auf NBC / Diane Dwyer
Diane Dwyer