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Ayman al-Zawahiri, Nachfolger Osama Bin Ladens, erweist sich als guter Stratege.

Foto: APA / EPA / SITE INSTITUTE HANDOUT

Nach 9/11, den Angriffen in New York und Washington, rettete sich die US-Regierung von George W. Bush in die Hypothese, dass das Problem Al-Kaida militärisch zu lösen sei: mit der Zerstörung des sicheren Hafens, den die Terrororganisation von Osama Bin Laden bei den Taliban in Afghanistan gefunden hatte. Warum Al-Kaida ausgerechnet in Afghanistan beheimatet war – einem Land, in dem sich der Westen wie nirgends sonst im Kampf gegen den Kommunismus des politischen Islam bedient hatte – und warum so viele Täter aus Saudi-Arabien, der Säule der US-Sicherheitspolitik in der Region, kamen: Diese Analyse wurde, wenn überhaupt angedacht, auf später verschoben.

Die Taliban-Herrschaft wurde gestürzt, Al-Kaida aus Afghanistan vertrieben. Erst beinahe zehn Jahre später, im Mai 2011, gelang Präsident Barack Obama, was Bush vorenthalten geblieben war: Osama Bin Laden, der – in den Augen seiner Anhänger – große jihadistische Charismatiker, wurde in Pakistan aufgespürt und getötet. Es folgte ihm die bisherige Nummer zwei nach, der im Vergleich wie ein Bürokrat wirkende Ayman al-Zawahiri. Der jetzt 65-jährige Ägypter leitet die Organisation auch heute noch.

Bin Laden und Zawahiri, das war die personelle Vereinigung von zwei radikalen Strömungen, die eine aus dem klassischen, in Saudi-Arabien auf die Spitze getriebenen Salafismus kommend, die andere aus der ägyptischen Muslimbruderschaft.

Als Osama Bin Laden 2011 54-jährig von der Bildfläche verschwand – seine Leiche wurde vom US-Spezialkommando ins Meer geworfen –, war Al-Kaida in einer tiefen Krise. Das erschloss sich auch aus in Bin Ladens Haus gefundenen Aufzeichnungen. Der Irak, in dem Bush Al-Kaida einen neuen Nährboden erschloss, indem er 2003 die US-Truppen in das Land einmarschieren ließ, war letztlich zur großen Herausforderung geworden, die sie nicht meisterte.

Bin Laden haderte in seinen letzten Jahren mit den im Irak begangenen Fehlern: Sie bestanden vor allem darin, dass Al-Kaida durch ihr Verhalten die lokale Bevölkerung entfremdete, die ihr anfangs aus Opposition gegen die US-Besatzung und gegen die neue schiitische politische Elite zum Teil wohlgesinnt gewesen war.

Aber dennoch wäre es ein großes Missverständnis, von Al-Kaida nur in der Vergangenheitsform zu sprechen: Zwar ist der "Islamische Staat", Daesh (das arabische Akronym für IS), ab 2013 mit einer derartigen Wucht über die Region hereingebrochen, dass nicht mehr Zawahiri, sondern der IS-Chef mit dem Aliasnamen Abu Bakr al-Baghdadi als legitimer jihadistischer Nachfolger Osama Bin Ladens dastand. Aber Al-Kaida gibt es nicht nur noch – sondern heute stellt sich in Syrien die schreckliche Frage, ob die Organisation so wandelbar ist, dass sie bald zumindest indirekt bei Gesprächen über die politische Zukunft des Landes am Tisch sitzen wird.

Die blinden Flecken der USA

Eine schlechtere Nachricht 15 Jahre nach dem 11. September 2001 kann es ja wohl kaum geben. "Al-Kaida ersteht global wieder, sie nützt die blinden Flecken der USA aus und baut jeweils eine populäre Vorhut auf, die die Transformation lokaler Bevölkerungen in Ländern managt, in denen der Staatsapparat kollabiert ist. Syrien ist aktuell ihr Schwerpunktland", schreibt die Al-Kaida-Spezialistin Jennifer Cafarella (Institute for the Study of War) Anfang September gemeinsam mit anderen Autoren in einem Gastkommentar in "Foreign Policy".

Gemeint ist die Transformation der religiösen Identität der Syrer. Ayman al-Zawahiri versucht die Fehler zu vermeiden, die die Al-Kaida unter Osama bin Laden gemacht hat. Er hat Order ausgegeben, dass möglichst zu vermeiden ist, was die örtliche Bevölkerung gegen die Organisation aufbringt. Dieser Fehler soll heute dem IS vorbehalten sein.

Aber wie kommt es dazu? Entwicklungsgeschichtlich gehören Al-Kaida und der IS ja zusammen: Der bereits zuvor mit Al-Kaida sympathisierende Jordanier Musab al-Zarqawi hatte 2004 im Irak eine Filiale der Organisation aufgebaut: Al-Kaida im Irak. Aus ihr wurde nach Zarqawis Tod bereits 2006 der "Islamische Staat im Irak" (ISI), stets unter der fernen Al-Kaida-Führung.

Das war inmitten des – von Al-Kaida mit Angriffen auf Schiiten entfachten – irakischen Bürgerkriegs, der sich alsbald zu Al-Kaidas Ungunsten wenden sollte: Jene irakischen sunnitischen Stämme, die Al-Kaida zuerst aufgenommen hatten, begannen zunehmend gegen deren Grausamkeiten gegen andere irakische Bevölkerungsteile und deren dominante Präsenz – die sich in Eingriffen in Stammesangelegenheiten und Geschäfte niederschlug – zu opponieren. So konnten letztlich die USA gegen gutes Geld etliche Stammeschefs überreden, Milizen aufzustellen, die fortan gegen Al-Kaida kämpften.

Wiederauferstehung in Syrien

Als 2012 der Aufstand in Syrien in Gang kam, sah die im Irak darniederliegende Al-Kaida/ISI, bereits unter ihrem Führer Abu Bakr al-Baghdadi, eine neue Chance gekommen. Eine Filiale in Syrien wurde aufgebaut: die Nusra-Front (Jabhat al-Nusra li-ahl al-Sham, Unterstützungsfront für das Volk Syriens) unter ihrem syrischen Anführer Abu Mohammed al-Jolani ("Der vom Golan": ebenfalls ein Aliasname). Aber dann engagierte sich Baghdadi auch selbst in Syrien, aus ISI wurde ISIS ("Islamischer Staat im Irak und in Syrien") – und 2013 versuchte er, die Nusra-Front zu schlucken.

Von Al-Kaida-Chef Zawahiri – also seinem eigenen Chef – zur Ordnung gerufen, sagte sich Baghdadi von Al-Kaida los: Und im Machtkampf der beiden jihadistischen Giganten erwies sich der "Islamische Staat" als erfolgreicher. Er schaffte, was Al-Kaida nie geschafft hatte: die utopische Idee auf dem Boden umzusetzen.

Aber wer einen Staat mit Territorium und Staatsvolk hat, den kann man auch angreifen. Die Nusra-Front hingegen ging einen anderen Weg: Durch ihre Kooperation mit anderen Rebellengruppen rückte sie in die Mitte des Rebellengeschehens in Syrien. Als sich die ganz offizielle Zugehörigkeit zu Al-Kaida als Hindernis erwies, trennte man sich ebenso offiziell: einvernehmlich, also ohne jeden ideologischen Bruch. Die Nusra-Front heißt jetzt Fatah-Front und ist mit Gruppen verbunden, die zur anerkannten syrischen Opposition gehören.

Die Brücke ist die potente Gruppe Ahrar al-Sham: Sie liegt genau an der so schwer zu definierenden Grenzlinie zwischen Rebellen und Jihadisten mit einer anderen Agenda. Genau darum ging es auch in den schwierigen US-russischen Gesprächen über eine Waffenruhe in Aleppo: Wie kann man die neue Kaida, die sich hinter den Rebellen versteckt, wieder aussortieren? Wenn das nicht gelingt, dann wird Ayman al-Zawahiri als der bessere Stratege als Osama Bin Laden in die Geschichte eingehen, der Al-Kaida das Überleben gesichert hat. Dass sich die Organisation nicht geändert hat, zeigen neue Drohungen Zawahiris am Vorabend von 9/11. (Gudrun Harrer, 10.9.2016)