Bild nicht mehr verfügbar.

Ein fassungsloser New Yorker vor dem eingestürzten Turm eins.

Foto: AFP / EPA / Doug Kanter

Bild nicht mehr verfügbar.

Wo bis zum fatalen 11. September 2001 die Zwillingstürme des alten World Trade Center standen, ragt heute der Freedom Tower des neuen World Trade Center in die Höhe. Rund um den Ground Zero haben die New Yorker längst ihr Alltagsleben wieder.

Foto: Reuters / Brendan McDermid

Bob Graham steht vor einer blauen Wand im National Press Club in Washington und antwortet geduldig auf Fragen. Was sich 15 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wohl noch unter dem Teppich hervorkehren lasse? "Der Korken ist aus der Flasche", sagt er. Nun, da der Korken draußen sei, werde der Informationsfluss erst richtig beginnen, prophezeit er und meint, dass irgendwann publik wird, was die Ermittler noch unter Verschluss halten.

Graham hat in Harvard Jus studiert, seine Sprache ist die eines versierten Juristen. Er saß 18 Jahre lang im US-Senat, davor war er Gouverneur des Bundesstaats Florida, wo er einen Tag pro Woche arbeitete, wie normale Leute es tun. Mal zog er an Supermarktkassen Waren über den Scanner, mal half er, kaputte Schuldächer zu reparieren, mal fuhr er in einem Boot den Apalachicola River hinauf, wo er Fische zu Forschungszwecken kennzeichnete.

Der 11. September 2001 war schon deshalb ein Einschnitt im Leben Grahams, weil es sich von da an fast nur noch um 9/11 drehte. Als Senator leitete er eine Parlamentskommission, die herauszufinden versuchte, warum die US-Geheimdienste vor dem Terrorangriff derart im Dunkeln getappt waren. Heute, mit 79, ist er in den Augen der Regierung ein Mann, der einfach nicht loslassen kann.

Es ist zwölf Jahre her, dass ein zweites Gremium – die hochkarätig besetzte 9/11 Commission – seinen Abschlussbericht vorlegte. Präsident George W. Bush betrachtete die Akte damit als geschlossen, und sein Nachfolger Barack Obama hat ihm nie widersprochen. Graham dagegen findet, dass die Aufklärung noch ziemlich am Anfang steht: "Die volle Wahrheit wird ans Licht kommen. Ob es nun 2026 sein wird oder 2046, irgendwann werden wir die ganze Wahrheit erfahren."

Die Freigabe, sagt der Ex-Senator, sei der Moment gewesen, in dem die Flasche entkorkt worden sei. Eine Wende. 28 Seiten dick ist die Passage aus dem Bericht der ersten, der Graham-Kommission, deren Veröffentlichung das Kabinett Bush im Jahr 2002 verhinderte. Nach zähem Gerangel ist sie im Juli ins Netz gestellt worden – allerdings übersät mit den schwarzen Balken eines Zensors, sie gleicht eher einem Textfragment.

Vorbereitungen in San Diego

Dennoch: Über San Diego etwa ist dort Aufschlussreiches zu lesen. In der Stadt im Süden Kaliforniens mieteten sich Khalid al-Midhar und Nawaf al-Hasmi ein, die "Logistiker" der Al-Kaida-Zelle um Mohammed Atta, wie sie das FBI nennt. Sie sollen sich um Wohnungen, Kleidung, Verpflegung kümmern, den Alltag der Attentäter organisieren. Die Logistiker leben bescheiden, aber hübsch in den Parkwood Apartments. Fahd al-Thumeiri, Diplomat am saudi-arabischen Konsulat in Los Angeles, soll dem Duo nach neueren Erkenntnissen des FBI unverzüglich einen Betreuer zur Seite gestellt haben.

Auf den 28 Seiten wird ausführlich die Rolle eines Saudis namens Omar al-Bayoumi beschrieben, von dem es heißt, dass er wohl für den Geheimdienst seines Landes arbeitete. Al-Bayoumi soll al-Midhar und al-Hasmi die Wohnung besorgt haben, nachdem sie im Jänner 2000 für ein paar Tage bei ihm untergekommen waren. Von einer Firma, die dem Verteidigungsministerium in Riad angegliedert war und bei der er sich praktisch nie blicken ließ, bekam er ein Gehalt, das sich nach der Ankunft al-Midhars und al-Hasmis sprunghaft erhöhte.

Dann wäre da noch das Telefonverzeichnis Abu Subaidas, eines in Pakistan gefangen genommenen Al-Kaida-Mitglieds. In dem fand man die Nummer einer Firma, deren Aufgabe es war, das Anwesen des ehemaligen saudischen Botschafters Bandar bin Sultan in Aspen, dem Nobelskiort in den Rocky Mountains, zu unterhalten. Die Rolle des Prinzen Bandar sollte noch einmal genauer unter die Lupe genommen werden, fordert Graham.

Bush wiederum, glaubt er, habe die Saudis geschützt, um besser zum Krieg im Irak trommeln zu können. In der Trümmerwüste am Ground Zero habe er geschworen, "diesen Leuten bis ans Ende der Welt zu folgen". Er habe dann rasch entschieden, dass die Welt im Irak ende. Der Irak aber habe mit 9/11 nichts zu tun, Saudi-Arabien dafür eine Menge. "Wie ziehst du dich aus der Affäre? Du unterdrückst Informationen über Saudis, die in die Sache verwickelt waren."

Indizien und Motive

Für Grahams Kritiker sind es allenfalls Indizien, keine Beweise. Die 9/11-Kommission kam 2004 zu dem Schluss, dass weder die Regierung Saudi-Arabiens noch einzelne ihrer Mitglieder die Terroristen um Atta finanziert hatten. Das Weiße Haus ließ seinen Sprecher Josh Earnest erst im Juli verkünden: All die Spuren, denen die Ermittler nachgegangen seien, hätten letztlich zu nichts geführt.

Graham lässt sich nicht beirren. Manche sehen ihn deshalb als Sturkopf, manche gar als Verschwörungstheoretiker. Er selbst sieht sich als Marathonläufer. Pointiert erinnert er daran, dass 13 der 19 Attentäter in den Wochen und Monaten vor den Anschlägen die meiste Zeit in Florida verbrachten, in Coral Springs, Deerfield Beach, Hollywood.

Bei weitem nicht alles, was Detektive über diese Phase zusammengetragen hätten, habe man bereits eingefügt in das Puzzle. Seit ein paar Jahren wisse man, dass die Gruppe um Atta Kontakte zu einer prominenten saudischen Familie in Sarasota, einer Stadt an der Golfküste Floridas, pflegte. Die sei zwei Wochen vor dem 11. September 2001 Hals über Kopf abgereist.

Die Sarasota-Connection, orakelt der Ex-Senator, könnte noch Interessantes zutage fördern, wenn man sie denn ernsthaft untersuche. "Haben diese 19 Personen, von denen die meisten kein Englisch konnten und nie zuvor in den USA gewesen waren, diesen komplizierten Auftrag allein ausgeführt?", fragt Graham. "Oder hat sie jemand unterstützt, während sie unter uns lebten? Und wenn ja, wer?"

Was aber sollte das Motiv der Saudis gewesen sein, wird der alte Mann ein ums andere Mal gefragt. Osama Bin Laden, spekuliert er, habe der Dynastie in Riad mit einer Rebellion gedroht. Um sich freizukaufen, habe ihm die Herrscherfamilie geholfen – auch mit Kontakten in Übersee.

Die Debatte intensiviert sich

Saudi-Arabien und der 11. September: Das Thema beschäftigt die Amerikaner, seit man weiß, dass 15 der 19 Attentäter aus dem konservativen Königreich stammten. Statt abzuflauen, hat die Debatte eher an Fahrt gewonnen, auch im Kongress. Vielleicht liegt es daran, dass die USA infolge des Fracking-Booms mehr Öl fördern und weniger angewiesen sind auf Energieimporte aus Nahost.

Die Kritik wird jedenfalls lauter, und zwar weit über die Causa 9/11 hinaus. Die Senatoren Chris Murphy und Rand Paul wollen per Novelle ein Waffengeschäft mit Riad stoppen, wegen der Bombenangriffe, die dessen Luftwaffe im Jemen fliegt. Es geht um 1,15 Milliarden Dollar.

Szenenwechsel: Hart Office Building, ein marmorhelles Gebäude auf Capitol Hill, in dem zahlreiche Senatoren ihre Büros haben. Eingehüllt in einen schwarzen Umhang hockt Medea Benjamin in brütender Mittagshitze auf dem Gehsteig und verlangt, dass der Kongress dem Antrag Murphys und Pauls folgen und resolut handeln möge. "Die Uhr tickt! Tick, tick, tick!", ruft sie und hebt ihre mit roter Farbe – symbolisch für das Blutvergießen – bemalten Hände. Neben ihr fallen 13 ihrer Mitstreiter in den Sprechchor ein. Code Pink, Benjamins pazifistisches Netzwerk, zeigt Flagge.

Medea Benjamin, 64 Jahre alt, von fast mädchenhafter Figur, hat einmal eine Grundsatzrede des Präsidenten Obama – es ging um die Zukunft des Lagers Guantánamo – mit einem Zwischenruf unterbrochen, der sie ins Rampenlicht rücken ließ: "Sie sind Commander in Chief! Sie könnten Guantánamo doch heute schon schließen!"

Vor wenigen Wochen hat sie während Donald Trumps Kandidatenrede auf dem Parteitag der Republikaner ein Spruchband entrollt: "Baut Brücken, keine Mauern!" Nun hat sie ein Buch geschrieben über das, was sie die "unheilige Allianz des Westens mit Saudi-Arabien" nennt.

Als sie es in einem Café im Zentrum Washingtons vorstellt, packt sie auf einmal die Lust am Spott: Ein Immobilienunternehmen aus dem Königreich hat der Eliteuniversität Yale Millionen gespendet. "Raten Sie mal, an welche Fakultät die Spende ging?", fragt Benjamin in die Runde und muss feixen, als sie die Antwort gibt: "An die Fakultät für Rechtswissenschaften!" (Frank Herrmann aus Washington, 11.9.2016)