Niki Glattauer: "Jetzt pass auf!"

Foto: Kremayr und Scheriau

Eben schockte die Entwicklungsorganisation Oxfam die Weltöffentlichkeit mit den neuesten Zahlen zur weltweiten Verteilung von Reich und Arm (schockte sie wirklich oder verblüffte sie nur?). Demnach besitzen inzwischen die 62 reichsten Menschen der Welt so viel Vermögen wie die Hälfte der Menschheit. Das Vermögen dieser 62 ist laut Berechnungen der NGO seit 2010 um eine halbe Billion Dollar gestiegen, das Vermögen der halben Menschheit hingegen in dieser Zeit um 41 Prozent, oder eine Billion Dollar, gefallen. Ein "ethisch-moralisches Bild des Schreckens", wie es das angesehene Time Magazine formulierte.

Wie leider nicht überall bekannt, ist die Situation im Mikrokosmos Österreich nicht viel anders. Hierzulande verfügen die reichsten zehn Prozent inzwischen über 60 Prozent aller Vermögen des Landes. Als ich geboren wurde, waren es 40 Prozent, irgendwann davor die Hälfte. Alarmiert uns das? Ich hoffe, das tut es. Denn wie jeder geübte Monopoly-Spieler weiß (bei DKT war es nicht anders) ist die exponentiell wachsende Ungleichheit der Vermögen der Mitspieler der Anfang vom Ende des Spiels. Wer alle Straßen, Häuser und Hotels hat, hat bald niemanden mehr, der dort Miete zahlen kann ... Das Spiel ist aus. "Tilt", um ein fast ausgestorbenes Wort aus der Spielhalle zu gebrauchen. "Tilt" – für alle Beteiligten. Die Hauptgründe für das stete und konsequente Aufgehen der Reich-Arm-Schere:

a) Reichtum gedeiht dort am besten, wo er schon ist. Geld kommt zu Geld, heißt ein Sprichwort.

b) Wer reich ist, sorgt dafür, dass er möglichst wenig davon hergeben muss. Mit dem Geld, das die Superreich-Konzerne wie Amazon, Apple, Starbucks, McDonalds etc. völlig legal in Steueroasen parken, um der Steuer zu entgehen, könnte man ganze Staatshaushalte sanieren.

b) Reichtum wir vererbt – und damit weiter eng gebündelt statt weit zerstreut.

Leider ist es in Österreich mit dem Bildungsreichtum auch so.

a) Wissen und Bildung vermehren sich dort am besten, wo schon Wissen und Bildung sind. Was durch die Hirnforschung inzwischen nachgewiesen werden kann.

b) Wer Wissen und Bildung hat, sorgt dafür, dass er oder sie diese möglichst exklusiv haben. Ein trennendes Schulsystem und ein blühender Privatschulsektor (von der Nachhilfeindustrie ganz zu schweigen) sorgen dafür.

c) Wissen und Bildung werden vererbt, und zwar in den Elternhäusern.

Was mich nun besonders stört, ist der Umgang mit diesen Erkenntnissen. Denn immer noch gibt es Leute (z. B. der Marke Sarrazin), die behaupten, die Schieflage sei dem Umstand geschuldet, dass die einen Kinder "weniger Grips" hätten als die anderen. Aber jetzt pass auf. Als Vater einer Tochter, die vier Jahre erfolgreich ins Gymnasium gegangen ist, und gleichzeitig als Klassenvorstand diverser Söhne und Töchter, die ich im Vier-Jahres-Rhythmus durch die Haupt- (jetzt Hauptpardonneuemittel-)schule gehen sehe, kann ich mit gutem Gewissen sagen: Meine Tochter ist intelligent, aber sie war und ist um nichts intelligenter als die meisten meiner Schülerinnen, war und ist um nichts "naturbegabter" – und trotzdem wird sie am Ende des Tages, nämlich nach Beendigung ihrer Schullaufbahn, das Abschlusszeugnis einer höheren Schule in der Hand haben; und das mit einer ziemlich konkreten Vorstellung von einem Beruf, für dessen Ergreifung sie bis dahin die entscheidenden Weichen gestellt haben wird. Sie oder wir.

Meine Tochter hat nämlich das Glück, ins "richtige" Milieu hineingeboren worden zu sein: Sie hat überdurchschnittlich gut verdienende Eltern, die zudem imstande sind, Deutsch mit ihr zu reden (in jeder Hinsicht); sie hat eine formidabel vernetzte Verwandtschaft; sie hat Freundinnen mit Bibliotheken statt Mitgliedskarten für Videotheken; und sie hat Lehrerinnen, die ihre Zeit an der Schule hauptsächlich mit dem Unterrichten verbringen und nicht zu drei Viertel damit, mit Jugendamt und Polizei zu korrespondieren oder mit verzweifelten Alleinerzieherinnen soziale Probleme zu behandeln (von lösen eh keine Rede).

Der Vater und der Lehrer in mir

Der Vater in mir kann mit all dem natürlich gut schlafen. Der Lehrer in mir findet das zum Heulen.

Einen Punkt freilich gibt es, der in den meisten Diskursen zum Thema außer Acht gelassen wird – und die Mär vom Glück der vererbten Bildung für uns Bildungsbürger relativiert. Die bestehende ungleiche Verteilung der materiellen und geistigen Ressourcen in unserer Gesellschaft bedeutet, dass einer immer größeren Zahl von Menschen die Chancen genommen werden, ihren bestmöglichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Ergo dessen muss diese mit den Beiträgen der Minderheit auskommen. Das ist eine Lose-lose-Situation. Zum einen überfordert es jene, die es an die Futtertröge schaffen, denn die müssen mit ihrer Arbeitskraft steigende Arbeitslosigkeit, Armutskriminalität und diverse Maßnahmen zum sozialen Ausgleich finanzieren. Vor allem aber führt es zu einer Ausdünnung der Potenziale. Jahr für Jahr gehen uns zigtausende hervorragende zukünftige Handwerker und potenzielle Kleinbetriebler und -betrieblerinnen verloren, weil deren Eltern glauben, ihre Kinder um jeden Preis durch die Gymnasien Richtung Unis schleusen zu müssen. Umgekehrt unterbleibt in den altbewährten AHS die so dringend benötigte geistige und mentale Blutauffrischung, weil sich deren Klientel auf Zöglinge aus den immer gleichen Schichten beschränkt, nämlich auf jene mit "Immatrikulationshintergrund".

Ich nenne das den drohenden Inzest der Bildung. Und wir wissen, wohin Inzest führt. Monopoly Hilfsausdruck, wie Brenners Untermieter sagen würde (aber das wäre jetzt eine andere Geschichte). (Niki Glattauer, 10.9.2016)