In seinem neuen monumentalen Buch – Höllensturz. Europa 1914 bis 1949- bezeichnet der britische Historiker Ian Kershaw "die explosionsartige Ausbreitung eines ethnisch-rassistischen Nationalismus" als eine der Triebkräfte bei der Selbstzerstörung Europas. Politiker, die sich der ausschließlich von Parteiinteressen gestimmten Klaviatur politischen Handelns virtuos zu bedienen verstehen, reduzieren komplexe Sachverhalte der Außenpolitik auf schlichte Machtfragen.

In seinem leidenschaftlichen Aufruf gegen den "allgemeinen Defätismus" in der Kampagne zur Präsidentschaftswahl schrieb Karl-Markus Gauß (4.9) von "skrupellosen Hasardeuren" wie David Cameron und Boris Johnson, die bereit sind – Brexit heute ja, Brexit morgen nein -, "für einen Wahlsieg die Interessen ihres Landes jederzeit aufs Spiel zu setzen".

Gerade deshalb verdient die eindeutige Stellungnahme des Außenministers in derselben STANDARD-Ausgabe besondere Beachtung. Auf die Vorwürfe, er kopiere die Ausländerpolitik der FPÖ, antwortete Sebastian Kurz wörtlich: "Ich bin klar proeuropäisch, versuche, Probleme anzusprechen, Lösungsvorschläge zu machen. Die FPÖ ist eine Partei, die destruktiv ist, grundsätzlich wenig von der EU hält und somit sich nicht auf europäische Lösungen setzt. Bei der FPÖ habe ich immer das Gefühl, dass sie Probleme anspricht, ausschließlich um sie zu plakatieren, aber ohne jeglichen Willen, sie zu lösen."

Diese klaren Worte sollen die ausgeprägten Opportunisten ohne Rücksicht auf ihre Parteifarbe lesen, die ihren Mantel vor dem düsteren Hintergrund der Flüchtlingskrise schamlos nach dem Winde drehen. Bei der Wahl des Bundespräsidenten müsse man sich genau anschauen – so Vizekanzler Reinhold Mitterlehner -, welcher der beiden Kandidaten "international Türen öffnet, wie dieser mit Krisen umgeht und ob er das Gemeinwohl vor persönliche und Parteiinteressen stellt".

Man braucht sich über das zu erwartende internationale Echo nach dem 2. Oktober keine Illusionen zu machen. Ob es ungerecht ist oder nicht, Österreich bleibt seit der Waldheim-Affäre, den Eskapaden Haiders und der Bildung der schwarz-blauen Koalition 2000 unter einem Vergrößerungsglas der Weltpresse. Weitsicht und Kompromissfähigkeit sind die unerlässlichen Tugenden der Europapolitik. Populistische Schnellschüsse und rhetorische Aggression gegen angesehene ausländische Persönlichkeiten sind nicht nur kontraproduktiv. Im Falle eines kleinen neutralen Staates wirken sie sogar lächerlich.

Persönlichkeiten wie Rudolf Kirchschläger, Thomas Klestil und Heinz Fischer waren deshalb ideale Bundespräsidenten, weil sie wussten, genauso wie die langjährigen Regierungschefs Franz Vranitzky und Wolfgang Schüssel, dass Österreichs Schicksal untrennbar mit dem Erfolg der europäischen Integration verbunden ist. Das muss auch die zentrale Botschaft bei der Wahl zwischen den beiden Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten sein. Wohl deshalb sprachen sich unter anderen Hugo Portisch und Franz Fischler, Othmar Karas und Karel Schwarzenberg für Alexander Van der Bellen und nicht für den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer aus. (Paul Lendvai, 5.9.2016)