STANDARD: Zeigt der Bosco Verticale die Zukunft der Architektur?

Boeri: Der Bosco Verticale zeigt ein mögliches Zukunftsszenario. Nicht nur der Mensch wird in den dichten Städten vertikal leben, sondern auch die Bäume. Es wird eine Symbiose zwischen uns und den Pflanzen geben. Für mich ist diese Architektur auch ein Experiment. Beim Bau mussten viele technische Probleme gelöst werden, etwa jenes, wie man Bäume mit Drähten gegen den Wind absichern kann. Die Gebäude zeigen, was technisch machbar ist und in welche Richtung es sich entwickeln könnte.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Wie lange wachsen die Bäume jetzt schon auf dem Bosco Verticale?

Boeri: Die meisten Bäume wurden 2013 auf den Balkonen gepflanzt, als das Gebäude im Rohbau war. Seither konnten wir wichtige Erfahrungen sammeln, etwa wie sich die Wurzeln der Bäume entwickelt und die Pflanzen dem Wind standgehalten haben. Wir haben jetzt auch mehr Erfahrung, wie die Bewohner mit den Pflanzen umgehen.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Welche Wirkung haben die Bäume auf sie?

Boeri: Wir haben eine ganz besondere Wirkung entdeckt: Menschen bekommen in Hochhäusern manchmal Höhenangst und Schwindelgefühle. Im Bosco Verticale sind diese Empfindungen aber für viele Betroffene wie weggeblasen, weil die Bäume Stabilität und Sicherheit ausstrahlen.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Ist der Bosco Verticale Ihr erstes Projekt, bei dem Sie Natur mit Architektur verbunden haben?

Boeri: Ich habe das schon bei anderen Projekten gemacht, jedoch nie in einem so großen Maßstab. Beim Bosco Verticale habe ich versucht, alles auf die Spitze zu treiben, war regelrecht besessen von der Idee, möglichst große Bäume zu verwenden. Ich glaube, dass Bäume Individuen sind und jeder eine eigene Identität hat.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Was hat Sie inspiriert?

Boeri: Mich hat ein Roman des italienischen Schriftstellers Italo Calvino sehr beeindruckt. In seinem Buch Il barone rampante (Der Baron auf den Bäumen) geht es um einen Mann, der eines Tages beschließt, den Boden zu verlassen, um auf Bäumen zu leben. Ich erinnere mich auch an Joseph Beuys, der 1982 auf der Documenta in Kassel 7000 Basaltsteine verkaufte, für die er dann jeweils eine Eiche in der Stadt anpflanzte und so den Stadtraum mit Bäumen veränderte. Die stärkste Inspiration kam aber von Friedensreich Hundertwasser, den ich 1973 bei der Triennale in Mailand sah, wo er mit einem riesigen Baum in der Hand durch die Straßen ging. Dieses Bild hat mich sehr geprägt. Ein Treffen hat sich leider nie ergeben. Während der Planungen zum Bosco Verticale habe ich dann Kontakt zu seiner Tochter aufgenommen und ihr geschrieben, dass ich ihren Vater und seine Ideen sehr geschätzt habe.

Foto: 2016 Hundertwasser Archiv Vienna / Hierner

STANDARD: Die beiden Türme des Bosco Verticale sind 76 beziehungsweise 110 Meter hoch. Wo sind die Grenzen des technisch Machbaren, wenn man Gebäude begrünen möchte?

Boeri: Theoretisch könnte der Bosco Verticale auch doppelt oder sogar dreimal so hoch sein. Wichtig ist, dass man die richtigen Bäume auswählt, die zur Höhe passen. Zu beachten ist auch die Sonne, es gibt aber auch Bäume, die sehr wenig Licht brauchen. Der dritte Faktor ist der Wind. Ihn zu beherrschen ist oft sehr schwierig. Wir haben mit der Firma Arup zusammengearbeitet und viele Erfahrungen gesammelt, die uns bei neuen Projekten sehr helfen werden. Wir entwickeln derzeit ein Hotel mit 250 Zimmern in der chinesischen Provinz Guizhou (Mountain Forest Hotel, Anm.), das ebenfalls mit Bäumen begrünt sein wird.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Die Wohnungen im Bosco Verticale sind Luxuswohnungen. Wird es auch Gemeindebauten mit Bäumen auf dem Balkon geben?

Boeri: Mit Sicherheit, denn das Teure am Bosco Verticale war die Technik, die wir erst lernen mussten. Durch die Erfahrungen ersparen wir uns viel Geld beim nächsten Projekt. Ein Kostenfaktor ist auch die laufende Pflege und Erhaltung der Bäume. Bei unserem nächsten Projekt in Lausanne wollen wir versuchen, hier so viel wie möglich einzusparen.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Warum überlassen Sie die Pflege der Bäume nicht den Bewohnern?

Boeri: Diese Frage haben wir uns auch gestellt, uns dann aber für ein professionelles Team entschieden. Ich bin darüber sehr froh, denn obwohl die Bäume auf den Balkonen sind, sind sie doch Teil des Gesamten – so wie ein Park oder ein Innenhof. Wir arbeiten viel mit Bewässerungssensoren. Und es gibt Gärtner, die sich vom Dach abseilen und wissen, was bei den Bäumen gemacht werden muss.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Was passiert, wenn ein Baum zu hoch wächst und am darüberliegenden Balkon anstößt?

Boeri: Ganz einfach: Wir schneiden ihn ab! Wir haben vieles schon vor Jahren in einem Gewächshaus getestet. Wir wissen auch, wie man zum Beispiel die Wurzeln im Kreis wachsen lässt und wie das in Relation zur Höhe des Baumes steht.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Können die Wurzeln den Beton beschädigen oder sogar durchstoßen?

Boeri: Nein, das kann nicht passieren, zumal sich zwischen den Wurzeln in der Erde und dem Beton noch eine Eisenwanne befindet. Uns ist aber klar, dass es im Umgang mit der Natur immer einen kleinen Spielraum gibt, der nicht vorhersehbar ist.

Foto: Michael Hierner

STANDARD: Wie haben Vögel und Insekten auf die Bäume am Gebäude reagiert?

Boeri: Es gibt da die Geschichte mit den Marienkäfern: Wir haben sie in Deutschland gekauft und nur auf drei Balkonen in den höheren Etagen ausgesetzt. Marienkäfer sind die Feinde vieler Schädlinge und schützen so die Bäume auf natürliche Weise. Wir dachten, dass sich die Marienkäfer langsam am Gebäude ansiedeln werden, doch schon nach zwei Monaten waren die Käfer nicht nur am Bosco Verticale, sondern auch auf den Nachbargebäuden zu finden. Wir haben aber auch viele Vögel beobachtet, die den Bosco Verticale als Nistplatz nutzen. Die Bewohner freuen sich über die Tiere, erzählen ihren Nachbarn davon, und so fördert das indirekt auch die Kommunikation der Menschen. Wir haben etwa 14 verschiedene Vogelarten gezählt, die die Bäume regelmäßig aufsuchen. Die BBC hat darüber sogar eine Dokumentation gedreht, um zu zeigen, wie biodiverse Gebäude ihr Umfeld beeinflussen. (Michael Hierner, 6.9.2016)

Foto: Michael Hierner

Stefano Boeri (59) ist italienischer Architekt mit Büro in Mailand (Boeri Studio). Sein Projekt Bosco Verticale in seiner Heimatstadt wurde 2014 mit dem Internationalen Hochhauspreis ausgezeichnet.

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Foto: Michael Hierner