Sofa-Installationen und Frühstücks-Action-Painting: Bei Hanno Millesi kommt der Wohnextremist zu seinem Recht.

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Hanno Millesi,

"Der Schmetterlingstrieb". € 18,- / 136 Seiten. Edition Atelier, Wien 2016

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Einem weitverbreiteten Irrtum zufolge schreiben Schriftsteller Bücher. Die meiste Zeit über tun sie das aber keineswegs; was Schriftsteller wirklich ausmacht, ist das Nichtschreiben: das fürchterliche Ringen um Inspiration. Zumindest dem Wiener Autor Hanno Millesi zufolge – der selbst hingegen seit Jahren mit großer Regelmäßigkeit publiziert und mittlerweile unter anderem ein reichhaltiges Panorama an Autor-Figuren erschrieben hat, die ihrer Schreibblockade entgegentreten. Die Auswege, die Millesi seine Helden dann allerdings nicht ohne Mutwillen suchen lässt, sind ziemlich komisch und restlos zum Scheitern verurteilt.

Wer sich da beispielsweise für einen gut gemeinten Ratschlag an die literarischen Vorbilder wendet, muss bemerken, dass die entweder schon tot oder ziemlich boshaft und manchmal beides zugleich sind. Wer seine Tage bloß ganz im Geiste dieser Vorbilder verbringen will, ist anderen Risiken ausgesetzt (wie Alkoholvergiftungen im Andenken an Poe u. Ä.); nachzulesen sind solche und ähnliche Eskapaden in Das innere und das äußere Sonnensystem (2010) oder in Granturismo (2012).

Nicht-schreibender Schriftsteller

Auch der Held in Millesis aktuellem Buch ist Schriftsteller, auch er schreibt nicht. Der Schmetterlingstrieb ist nämlich ein Reiseroman (das Genre übrigens, an dem der Held von Granturismo scheitert). Der Held allerdings – als beruflicher Stubenhocker – tut dabei keinen Schritt vor die Tür. In 52 kurzen Kapiteln beobachten wir ihn stattdessen bei Exkursionen durch die eigene Wohnung, werden wir Zeuge von Fahrradtouren ins Schlafzimmer, Durchquerungen der Wohnung ohne Bodenberührung, Versteckspielen im Wäschekorb. Er liegt unter dem Sofa, um Gesprächen zu lauschen (er lebt allein), durchsucht von Krimis inspiriert die Wohnung nach Toten oder liegt in der Wäschelade, weil ihm seine Wohnung am besten gefällt, wenn niemand zu Hause ist, auch er selbst nicht.

Das ist ausgesprochen erbaulich zu lesen; hier kommt der Wohnextremist, der in uns allen steckt, zu seinem Recht. Die Episoden sind dabei leicht im Ton, im Ergebnis aber oft überraschend – überraschend komisch etwa, aber auch: überraschend schmerzhaft, drastisch u. v. m.

Übungen in Selbstkontrolle

Den Zwängen des Alltags, konnte man bei Millesi schon lange lernen, entkommt man nur scheinbar, nämlich um den Preis selbstauferlegter Zwänge. Noch die sinnlosesten, absurdesten Übungen hier sind, man merkt es bald, Übungen in Selbstkontrolle. Am sogenannten "Tag der Selbstversorger" versucht der Held, ohne die Hilfe seiner Hände auszukommen: "Ich könnte an der Butter lecken. Ein Ei ließe sich mit meinen Lippen aus der Verpackung nehmen, in der Spüle aufschlagen und sein Inhalt von der Nirosta-Oberfläche schlürfen. Diese Form der Verköstigung klärt einen rasch darüber auf, worum es in Wahrheit geht – um Tischmanieren jedenfalls nicht."

"In Wahrheit" nämlich geht es um Disziplin. Wobei das stetig wechselnde Regelwerk längst den zweifelhaften Geisteszustand darstellt, den es vielleicht hätte verhindern sollen. Nüchternheit und Ruhe im Erzählton nämlich lassen immer wieder fast übersehen, wie der Text von einem Halbsatz zum nächsten in den Wahnsinn kippt. Es geht nämlich auch um Paranoia; immer wieder meint der Held, es sei die Wohnung, die seine Aktionen diktiert, ihn beobachtet, sabotiert.

Es geht darüber hinaus, und davon weiß der Held nichts, um Kunst. In den Aktionen des Icherzählers treibt der Text ein ironisches Spiel mit den künstlerischen Formaten der Moderne. Was wir da sehen, sind einerseits die Privatseltsamkeiten von einem, der dringend einmal vor die Tür sollte, aber auch: Wohn-Performances, Sofa-Installationen, Hausapotheken-Fluxus, Frühstücks-Action-Painting.

Reisender Stillstand

Zum Wiener Aktionismus hat Franz Schuh einmal den oft (etwa erst kürzlich im sonnigen Klagenfurt) zitierten Satz geschrieben, er sei im Grunde die groteske Übertreibung kleinbürgerlicher Tischmanieren. Seither, könnte man ergänzen, ist jedes Ausstellen von Manieren die bewusste Unterschreitung des Wiener Aktionismus.

Millesi war jahrelang Assistent von Hermann Nitsch, und als Kommentar auf die ritualisierten Exaltationen solcher Leute lassen sich seine Texte auch und mit viel Gewinn lesen. Im Schmetterlingstrieb geht es mitunter wild zu: Schnittverletzungen, Selbstverbrennungen, Bewusstlosigkeiten – nicht als Folge des Exzesses allerdings, sondern der Zivilisiertheit: Die meisten Unfälle geschehen im Haushalt, nie werden sie so akkurat ausgeführt wie hier. Auch bei der Rinderblutorgie könnte man sich Millesis Helden nur mit Bügelfalte vorstellen.

Außerdem geht es natürlich um Literatur: In einer Passage unternimmt der Held eine Flugreise. Er folgt einem fernen Passagierflugzeug mit den Augen, läuft von Raum zu Raum, um es nicht aus dem Blickfeld zu verlieren, und wird schließlich doch aufgehalten – vom Bücherregal, was sonst.

Die Literatur ist im Weg

Gerade die Literatur ist dem Autor bei seinen Ausbruchsversuchen im Weg. Sogar ein Text wie dieser hat übrigens eine literarische Tradition: Sie geht zurück auf Xavier de Maistre, einen Offizier und Diplomaten, der 1794 anlässlich eines vierzigtägigen Hausarrests die Reise um mein Zimmer geschrieben und damit gleich einen literarischen Boom solcher "Zimmerreisen" ausgelöst hat (nachzulesen übrigens im empfehlenswerten "Reiseführer" von Bernd Stiegler, Reisender Stillstand, 2010).

Eine der wichtigsten Entdeckungen des isolierten Protagonisten de Maistres ist dabei er selbst, genauer: die Tatsache, dass es da einen Leib gibt und jemanden darin, der denkt und fühlt. Über die neu entdeckte Innerlichkeit schreibt er: "Niemals habe ich deutlicher wahrgenommen, dass ich doppelt bin." Millesis Texte schrauben diese philosophische Erkenntnis in schwindelnde Höhen: "An manchen Tagen habe ich Lust auf Theater", schreibt er einmal – und tritt vor den Badezimmerspiegel, zugleich Autor, Regisseur, Schauspieler und (unleidiges) Publikum seiner selbst; dann wieder steht er an beiden Enden der Gegensprechanlage zugleich; oder findet erstaunt ein Bett vor (seines), in dem gerade noch jemand geschlafen hat (nämlich er).

Doppelte Böden

Die doppelten Böden in dieser Wohnung sind nicht zu unterschätzen; Verweise in alle Himmelsrichtungen freuen den Kritiker, halten sich aber ausnahmslos vornehm zurück. Der Held bekommt davon ohnehin kaum etwas mit.

Als Ausweg aus seinen vier Wänden bleibt ihm ein mit populären, literarischen und Fernsehversatzstücken befüllter Gedankenapparat (und auch die wildesten assoziativen Verstiegenheiten seien ihm gegönnt; wo soll er auch sonst hin). Die größte Leistung dieses hochkomischen, konzentrierten, hintergründigen kleinen Buches liegt wohl ohnehin in den millimetergenau gesetzten Formulierungen, in der Schlagseite, die so auch die lapidarsten Feststellungen bekommen. "Obwohl ich die Fenster putze, sind sie kurze Zeit später wieder verschmutzt." Da tun sich Abgründe auf. (Bernhard Oberreither, 3.9.2016)