Ein Buch über Wirtschaft – auf vielen Metaebenen erzählt. César Hidalgo, Wachstum geht anders, € 19,99 / 285 Seiten. Hoffmann & Campe, 2016

Cover: Hoffmann und Campe

Boston/Wien – Der Mann redet mit Händen und Füßen, und er lässt die Worte über sein Lieblingsthema, die Gesellschaft als Summe dynamischer Netzwerke, mit unbeschreiblichem Tempo aus sich heraussprudeln. Dabei hüpft er ohne Schuhe auf seinem Sessel wie ein neugieriges Kind in Erwartung einer großen Überraschung. Zu seinem Alltagsoutfit zählen häufig Jeans und eine Jacke, beides dürfte schon bessere Zeiten erlebt haben. Der gerade einmal 36-jährige Chilene César Hidalgo ist wahrscheinlich nicht das, was man sich in Österreich unter einem Starwissenschafter vorstellen würde.

Bühne frei für den Komplexitätsforscher César Hidalgo: Der Chilene, Gruppenleiter am MIT Media Lab, ist mit gerade einmal 36 Jahren ein Forscherstar.
Foto: Webb Chappell

Hidalgo ist Direktor der Macro Connections Group am renommierten MIT Media Lab in Cambridge bei Boston und tatsächlich ein Star – und zwar nicht nur in der boomenden Komplexitätsforschung, die mit Computermodellen aus großen Datenmengen Zusammenhänge analysiert. Bekannt ist er zumindest seit einer gemeinsamen Arbeit mit Wirtschaftsforscher Ricardo Hausmann, den Economic Complexity Index (ECI): damit lässt sich die Kapazität der Volkswirtschaft berechnen und voraussagen. Die New York Times schwärmte nach der Veröffentlichung vor fünf Jahren: "Diese Diagramme sind eine neue Annäherung an ein ungelöstes Problem: Wie kann man aus einem armen Land ein reiches machen." Seit damals ist Hidalgo gern gesehener Gast in Vortragssälen. Man lässt sich von ihm gern die Welt erklären – zuletzt auch beim Europäischen Forum Alpbach.

Die Welt verstehen

Selbstverständlich ist er selbst noch ein Fragender: César Hidalgo, der Physik an der Universidad Católica de Chile und an der University of Notre Dame in Indiana studierte, erzählte dem STANDARD, was ihn wissenschaftlich antreibt: "Ich will verstehen, wie die Welt sich dreht." Dabei scheint die überzogen wirkende Dramatik seiner Worte durchaus ernst gemeint. Er ist neugierig, er hat ungewöhnliche Ideen, er versucht Grenzen von Fächern zu durchbrechen: So wird er unter anderem von Studenten beschrieben.

TEDx Talks

Seit zehn Jahren beschäftigt er sich vor allem mit Ökonomie. "Ich war dabei nicht von Anfang an gut, ich habe aber gelernt." Wirtschaftsforscher respektieren ihn und seine Netzwerkanalysen. Sein aktuelles Buch Wachstum geht anders wurde von Paul Romer, neuer Chefökonom der Weltbank, hochgelobt. Darin erklärt Hidalgo mit einem deutlichen Hang zur sprachlichen Metaebene, dass "Information" allen Dingen "Struktur, Komplexität und Schönheit" gibt.

Schrottreifer Bugatti

Hidalgo sagt, "Information" sei auch als physikalische Ordnung zu verstehen, mit der wir für gewöhnlich Inhalte vermitteln. "Eine Anordnung von Teilchen, die sich in einem neuen Auto genauso zeigt wie in einem Buch durch die Zusammensetzung von Worten, Sätzen und Gedanken. Daraus resultiert auch der Wert von Produkten. Fahren wir einen Bugatti zu Schrott, dann ist die Anordnung eine ganz andere, aber eben völlig wertlos für uns." Schaffen wir es, die Information im Sinne Hidalgos wachsen zu lassen, dann gelingt Wirtschaftswachstum. So weit, so logisch.

Der Wissenschafter war aber nicht nur mit Wirtschaftsforschung beschäftigt: Gemeinsam mit der österreichischen Mobilitätsforscherin Katja Schechtner und dem Start-up-Gründer Phil Salesses entwickelte er auch eine emotionale Landkarte der Stadt, die auf Umfragen basierend zeigt, wie sicher sich Menschen in bestimmten urbanen Bereichen fühlen.

Promi-Datenbank

Mit dem Projekt "Pantheon" schuf er im Team mit anderen Komplexitätsforschern und Designern die Möglichkeit, die Geschichte berühmter Persönlichkeiten zu hinterfragen und mit anderen Prominenten zu vergleichen. Als Basis erstellte das Forscherteam eine Liste der Leute, die am häufigsten im Lexikon Wikipedia vorkommen – gesammelt wurden Namen, die in mindestens 25 Sprachversionen vertreten waren. Ein Beispiel: Justin Bieber. Wie berühmt ist der Sänger wirklich? Vergleicht man ihn mit anderen nach unterschiedlichen Kategorien, dann ist er doch nicht einmal unter den ersten zehn, hieß es in einem Bericht über "Pantheon" auf fastcodesign.com.

Wie Hidalgo selbst wohl dabei abschneiden würde? Ein Popstar ist er ja: Hidalgo deutet fast verschämt auf einen Magazinbericht, in dem er genau so bezeichnet wurde, und lacht. Um dann wieder über Netzwerke zu schwadronieren. Die Natur, so sagt er, sei hochgradig organisiert. "Denken Sie nur an die Zellen in Ihrem Körper, an Ihr Gehirn." Ohne Energie wäre das alles nicht denkbar, sagt er. Das Netzwerk würde zusammenbrechen. Hidalgo hat davon reichlich und springt beim Reden in seinem Büro auf, setzt sich, redet, sprudelt. Wie ein Kind – und das im positiven Sinn des Wortes. (Peter Illetschko, 2.9.2016)