Die feministische Autorin bell hooks erzählt in ihrem 2000 erschienenen Buch "Where We Stand. Class Matters" auch die Geschichte ihrer eigenen ArbeiterInnenfamilie.

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"Heutzutage ist es in Mode, über Race und Gender zu sprechen, Klasse ist hingegen ein unpopuläres Thema", schreibt die feministische Autorin bell hooks in ihrem 2000 erschienen Buch "Where We Stand. Class Matters", in dem sie auch die Geschichte ihrer eigenen ArbeiterInnenfamilie erzählt. Ihr Befund, der sich vornehmlich auf die USA bezog, wurde auch von deutschsprachigen AutorInnen geteilt. Trotz Wirtschaftskrise und einer Schere zwischen Arm und Reich, die in den Industriestaaten immer weiter aufgeht, schien die Klassenanalyse in feministischen Bewegungen kaum noch eine Rolle zu spielen.

Geruch des Kommunismus

Die Gründe dafür sind vielfältig. Der Geruch des Kommunismus, der an den Begriffen Klasse und Klassenkampf haftet, ließ SozialwissenschafterInnen und InteressenvertreterInnen nach alternativen Bezeichnungen suchen. "In Deutschland wurde Klasse eng verknüpft mit einem Parteimarxismus und der DDR. Daher erschien vielen mit dem Ende der DDR auch der Begriff Klasse als antiquiert", sagt der Soziologe Andreas Kemper.

In der Zweiten Frauenbewegung kämpften Feministinnen indes für die Anerkennung der "Frauenfrage", die von der marxistischen Linken als "Nebenwiderspruch" definiert wurde: Erst wenn die kapitalistische Produktionsweise, der Unterschied zwischen Kapital und abhängiger Lohnarbeit überwunden sei, könne auch das Problem der Frauenunterdrückung gelöst werden. Im Zuge der zunehmenden Akademisierung des Feminismus in den 1980er- und 1990er-Jahren rückten schließlich neue Fragen nach Geschlecht und Identität in den Fokus, die Etablierung der Frauenforschung und später der Gender Studies wirkte mitunter ausschließend: Nur wer über ein bestimmtes Vokabular verfügte, konnte sich im zunehmend elitären Umfeld Gehör verschaffen.

Von der Mittelschichtsgesellschaft zur Erbaristokratie

Erst in den vergangenen Jahren ist ein verstärktes Interesse an der Klassenfrage und dem noch jungen Konzept des Klassismus zu beobachten. So widmeten verschiedene linke und feministische Medien dem Thema eigene Schwerpunktausgaben, auch im Umfeld feministischer Theorie gewinnen Fragen der Ökonomie an Bedeutung. Selbst in den Wirtschaftswissenschaften wird die Klassenfrage wieder gestellt, sagt Miriam Rehm, Ökonomin in der Arbeiterkammer Wien: "Es hat lange ein Tabu gegeben, über Klasse zu sprechen, das galt aber auch für Umverteilung."

Erst mit Thomas Piketty, der 2013 "Das Kapital im 21. Jahrhundert" veröffentlichte, sei eine Debatte über die ungleiche Verteilung von Vermögen neu entfacht. "Piketty hat den Finger in die Wunde gelegt. Er sagt, wir befinden uns auf dem Weg zurück in eine Gesellschaft der Erbaristokratie, in der Erben wichtiger ist als Arbeiten", sagt Rehm. Auch in Österreich ist eine breite Mittelschicht nur bei den Einkommen auszumachen, Vermögen ist extrem ungleich verteilt: Rund zwölf Prozent der Bevölkerung besitzen fast zwei Drittel des Vermögens. Angesichts solcher Entwicklungen müsse die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, neu gestellt werden, meint die Ökonomin.

Sexismus, Rassismus, Klassismus

Das Konzept des Klassismus, das in den USA entstanden ist, geht indes über eine ökonomische Definition von Klassen hinaus. Andreas Kemper veröffentlichte gemeinsam mit Heike Weinbach 2009 erstmals ein deutschsprachiges Buch zu den Ursprüngen des Klassismusbegriffs. Er bezeichnet analog zu Rassismus und Sexismus eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform, die ersten Aufzeichnungen dazu finden sich in Texten der Lesbengruppe "The Furies" aus den 1970er-Jahren.

Klassismus sei aber auch eine Ideologie, die die Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft argumentativ rechtfertige – etwa wenn die Lebenssituation Obdachloser oder von SozialhilfeempfängerInnen auf persönliches Versagen oder Faulheit zurückgeführt wird. In deutscher Sprache erschienene Publikationen wie Anja Meulenbelts "Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus" (1988) wurden indes wenig rezipiert und werden nun wiederentdeckt.

Verteilung von Ressourcen

"Es ist kein Zufall, dass vor allem feministische und antirassistische Medienprojekte großes Interesse an der Diskussion zeigen", sagt Assimina Gouma, die im vergangenen Jahr gemeinsam mit Vina Yun eine Ausgabe der Zeitschrift "Kurswechsel" zum Thema gestaltete. Gouma lehrt unter anderem am Institut für Internationale Entwicklung in Wien und forscht zu Migration und Antirassismus. "In der Antirassismusforschung sind Klasse und Klassismus wesentliche Konzepte, um nicht in eine Psychologisierung des Rassismus zu verfallen", sagt Gouma. Rassismus müsse als ein strukturelles Problem begriffen werden, das direkt mit der Verteilung von Ressourcen zusammenhängt. So könne auch die "politisch aufgezwungene Konkurrenz" zwischen MigrantInnen und NichtmigrantInnen zugunsten transnationaler Solidaritäten hinterfragt werden. Im Zuge rechter Rhetorik erscheint etwa die Debatte um Arbeitsplätze, aus denen Einheimische potenziell verdrängt würden, aktueller denn je.

Mehr als Political Correctness

Klassismusanalysen erfassen letztendlich die Herabsetzung und Ausgrenzung, die Angehörige der sogenannten Unterschicht erleben. Die Aktivistin und Bloggerin Clara Rosa verarbeitet in ihrem Blog "Class matters" persönliche Ausgrenzungserfahrungen und möchte auch andere dazu ermutigen, sich zu Wort zu melden. Sie selbst definiert sich in der Abgrenzung zum Unterschichtsbegriff als queere Poverty-Class-Akademikerin, mit 14 ist sie aus ihrem Elternhaus in ein Heim gezogen und hat dort ein Fachabitur gemacht, Jahre später führte sie ihr Weg an die Universität.

Bildung wird sowohl in Deutschland als auch in Österreich stark vererbt, Arbeiterkinder-Referate an Universitäten versuchen mittlerweile, dieser Gruppe Unterstützung anzubieten. Dennoch sei es selbst für kritische SozialwissenschafterInnen schwierig, die eigene Herkunft zum Thema zu machen. "Ein solches Outing ist auch ein Stempel. Man wird dann immer wieder auf seine soziale Herkunft reduziert, es geht darum, was man zu leisten imstande ist oder was man 'trotzdem' geschafft hat", sagt Clara Rosa.

Unsichtbare Kategorie

Die Auseinandersetzung mit Klasse verunsichert, schreibt bell hooks – auch feministische Aktivistinnen. "Klasse ist eine unsichtbare Kategorie", sagt Clara Rosa, was letztendlich eine Solidarisierung erschwere. Die Unterschiede zwischen Frauen, die auf ein Erbe und die Unterstützung ihrer Familie zählen können, und jenen, denen solche Sicherheitsnetze fehlen, beschäftigten feministische und Lesbengruppen schon vor Jahrzehnten. In der politischen Praxis entstanden Ideen wie jene eines anonymen Umverteilungskontos. Das Bewusstsein für entsprechende Machtverhältnisse innerhalb einer Gruppe sei dennoch auch im queer-feministischen Umfeld nach wie vor wenig vorhanden, kritisiert Clara Rosa. Auf entsprechende Hinweise folge häufig betroffenes Schweigen aus der Angst heraus, etwas Diskriminierendes zu sagen. "Christliche Mechanismen" nennt das die Bloggerin.

Baustellen und Werkzeuge

Auch Assimina Gouma sieht viele offene Fragen in Hinblick auf eine feministische Klassenanalyse. In einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft müssten Konzepte laufend auf ihre Realitätstauglichkeit überprüft und neue Allianzen geschmiedet werden. Wie können sich eine nichtmigrantische prekäre Universitätslektorin und eine migrantische Pflegerin ohne Sozialversicherung solidarisieren? "Das sind jetzt mal Fragen aus der eurozentrischen Perspektive. Und die reichen daher nicht aus, wenn wir auch die Ausbeutung im globalen Süden mitdenken wollen", sagt Gouma.

Am Klassismuskonzept wird indes auch von marxistischen DenkerInnen Kritik geübt. Mit dem Fokus auf individuelle Diskriminierung würde das eigentliche Ziel – die Überwindung des neoliberalen Kapitalismus – in den Hintergrund rücken und somit eine Entpolitisierung des Klassenbegriffs erfolgen. Eine Kritik, die Aktivistin Clara Rosa wütend macht: "Antiklassismus heißt nicht, netter zu Armen zu sein." Vielmehr gehe es darum, Werkzeuge bereitzustellen, damit Betroffene ihre Stimme erheben können. "Klasse ist so viel mehr als Geld", formuliert es bell hooks. (Brigitte Theißl, 4.9.2016)