Hamburg/Prag – Sie war Weltsportlerin, Politaktivistin und schon zu Lebzeiten eine Turnlegende, doch am Dienstag verließen Věra Čáslavská die letzten Kräfte. Die siebenmalige Olympiasiegerin, geschwächt von jahrelangem Kampf gegen eine Krebserkrankung, starb im Alter von 74 Jahren in ihrer Geburtsstadt Prag.

Schon weit vor dem Beginn dieser Leidenszeit lag eine Familientragödie wie ein Schatten auf der Seele der Tschechin. Im August 1993 tötete ihr Sohn Martin mit mehreren Faustschlägen nach einem Streit in einer Diskothek ihren Ex-Ehemann Josef Odložil. Seither litt Čáslavská unter schweren Depressionen und mied die Öffentlichkeit fast vollständig.

Welch ein Kontrast zu ihren erfolgreichen Zeiten als Kunstturnerin! Als olympische Turnkönigin und erwachsene Athletin im Kampf gegen bis zu zehn Jahre jüngere Konkurrentinnen prägte sie die Sommerspiele von Mexiko-Stadt. Und als sie ihre vier Goldmedaillen den Helden des Prager Frühlings in ihrer Heimat widmete, fand das weltweiten Niederschlag in den Medien – nicht nur in der Sportberichterstattung.

Eine Königin tritt ab. Die Abschiedsperformance 1969.
British Pathé

Für den Mut, sich rückhaltlos hinter die Reformer um Alexander Dubček zu stellen, musste Čáslavská, 1967 zur Weltsportlerin des Jahres gewählt, indes teuer bezahlen. Sie wurde nach der Niederschlagung der Reformbewegung zeitweise unter Hausarrest gestellt und über Jahre mit einem Ausreiseverbot belegt. Und man erniedrigte sie, die diplomierte Sportlehrerin, mit einem Job als Putzfrau.

Mit der ihr eigenen Chuzpe, so wurde übereinstimmend berichtet, gelang ihr die Rückkehr zu einem Arbeitsplatz in der Sporthalle. Tief dekolletiert erschien Čáslavská uneingeladen auf einem Empfang des tschechischen Sportverbandes und erklärte auf Nachfragen: "Das ist mittlerweile meine Dienstkleidung." Die Funktionäre fürchteten einen Skandal und verschafften ihr eine Trainerstelle bei Sparta Prag.

Dank der Samtenen Revolution wurde die Mutter zweier Kinder 1990 politisch rehabilitiert. Sie avancierte zur Sportberaterin von Präsident Václav Havel, wurde zur Präsidentin des Nationalen Olympischen Komitees gewählt und auch als Mitglied in das Internationale Olympische Komitee aufgenommen. Bis sie die Tragödie um ihren Sohn Martin psychisch aus der Bahn warf.

Goldmedaillen en masse: Věra Čáslavská.
Foto: APA/AP

Ausgangspunkt ihrer einzigartigen Karriere, die auch mit der Wahl zur tschechischen Sportlerin des Jahrtausends gewürdigt wurde, war ein kleines und nicht ganz ungefährliches Geheimnis. Zusätzlich zu ersten Trainingsstunden in der Sporthalle balancierte die kleine Věra mit gerade einmal vier Jahren auf den Holzstegen über den Dächern von Prag, die eigentlich den Schornsteinfegern vorbehalten sind.

Ein Foto aus diesen Tagen bekam die Mutter aber erst zu sehen, als Čáslavská kurz vor ihrer ersten Olympiateilnahme stand: "Und sogar so viele Jahre später wurde sie fast ohnmächtig vor Schreck."

Dem Sport widmete sich Čáslavská, die am 3. Mai 1942 in Prag geboren worden war, seit frühester Jugend, anfänglich jedoch als Eiskunstläuferin, ehe sie sich als 15-Jährige für den Turnsport entschied. In Tokio 1964 (drei Olympiasiege) und Mexiko 1968 (vier Olympiasiege) feierte sie für die Tschechoslowakei Triumphe.

In der Zeit nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 in Prag wurde sie wegen ihrer kritischen Haltung zum Regime mit einem Berufsverbot und Demütigungen bestraft. (sid, 31.8.0216)