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Die Wirtschaft in Cote d'Ivoire boomt. Der "Hyper Hayat"-Supermarkt in der Hauptstadt Abidjan.

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Kunden in einem Kosmetikgeschäft in Abidjan.

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Auf einer Baustelle in Grand Bassam tragen Frauen Baumaterial. Sie bekommen umgerechnet 0,04 Euro pro Ziegel.

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Kritiker warnen, dass der Aufschwung im Land nicht alle erreicht.

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Kaum fünfzehn Minuten Bootsfahrt vor Abidjan, der Hauptstadt der westafrikanischen Elfenbeinküste, liegt die kleine Insel Boulay. Für den europäischen Touristen von Interesse ist im Allgemeinen die westlich gelegene "Bucht der Millionäre": Neben marmorprotzigen Villen des heimischen "Ein Prozent" findet man an dem kurzen Strandabschnitt ein Luxushotel, Restaurants und allerlei Unterhaltungsangebote für den an Freizeitbespaßung gewohnten Urlauber.

Eine völlig gegensätzliche Erfahrung macht, wer in Abidjan in das "falsche" Boot einsteigt und auf der östlichen Seite der Insel landet. Hier sind Europäer selten, Kleinkinder flüchten sich beim Anblick weißhäutiger Menschen in Schreck und Panik in die Arme ihrer Mütter. In den einfachen Dörfern leben Migranten aus allen Ecken und Enden Westafrikas – allem voran Ghanaer, aber auch Burkiner, Togolesen, Beniner, Malier. Sie überleben dürftig durch Fischerei und Straßenhandel, für welchen sie in Pirogen in die Hauptstadt übersetzen. Sie verkaufen Zuckerbrot, Erdnüsse, geröstete Maiskolben oder Taschentücher, die allerkleinsten der Kinder verdingen sich als Schuhputzer. Während sie auf die Überfahrt warten, starren junge Männer auf die Containerschiffe, die sich aus dem Hafen Abidjans nach Europa aufmachen, und erwägen weiterzuziehen.

Potenzial und Wirklichkeit

Mit fast neun Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2015 ist die Elfenbeinküste bereits seit mehreren Jahren eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften weltweit. Bis heute wartet die breite Masse der Bevölkerung darauf, dass die Statistiken in ihrem Leben aufschlagen. In der Elfenbeinküste, wie in den meisten der ehemaligen Kolonien im Westen Afrikas, sind die weiterverarbeitenden und Exportunternehmen in der Hand einer kleinen Elite, hauptsächlich hier niedergelassener europäischer Multinationaler. Frankreich sicherte sich und seinen Unternehmen mit verschiedenen Abkommen nicht nur vorrangigen Zugang zu Rohstoffen, sondern auch zu öffentlichen Aufträgen und Infrastrukturprojekten.

Die statistische Wohlstandsvermehrung der vergangenen Jahre brachte also – neben den Fertighaussiedlungen in den Außenbezirken Abidjans, die noch immer auf den Einzug der neuen Mittelklasse warten – vor allem ein Gefühl des Abgehängtseins beim Großteil der Bevölkerung, der davon (noch) nicht profitieren konnte. Kakaobauern wie arbeitslose Wirtschaftsstudenten plagt das gleiche Grundgefühl: Wie sehr sie sich auch abschuften, sozialer Aufstieg, Entwicklung aus eigener Kraft und Anstrengung scheint unmöglich. Viele flüchten sich in quasikatholische Sekten. Viele suchen nur nach der ersten Möglichkeit, nach Europa zu flüchten.

Ein Musterschüler-Schwellenland, aber ...

Die meisten Wirtschaftstheorien würden wohl darin übereinstimmen, dass das Land die besten Voraussetzungen zum Musterschüler-Schwellenland hat: Es ist reich an Rohstoffen und jungen, arbeitswilligen Menschen, hat eine stabile Regierung, es gibt gute Fortschritte im Bildungsbereich.

Wie in allen westafrikanischen Ländern wächst die Bevölkerung schnell. Für ein Happy End für das ehemalige Bürgerkriegsland, aber auch die anderen Länder in der Region, müsste man Arbeitsplätze schaffen, insbesondere qualifizierte, und die Industrialisierung pushen. Um die soziale Ungleichheit wirksam zu bekämpfen, müssten außerdem die Staatseinnahmen steigen. Das wäre dann, sozusagen, eine Win-win-Situation, wenn langfristig neue, gesunde Absatzmärkte für europäische Produkte geschaffen werden und die Menschen ausreichend Perspektiven in ihren Ländern sehen, um dort zu bleiben. Die europäische Kommission plant, das ist zumindest zu befürchten, genau das Gegenteil.

Ein Ultimatum

Der 1. Oktober 2016 ist ein wichtiges Datum für die Länder der Westafrikanischen Wirtschaftsunion, an diesem Tag wird ein europäisches Ultimatum fällig: Bis Ende September sollen die Länder das Europäische Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA), ratifizieren. Weigern sie sich, droht die Kommission, allgemeine Einfuhrzölle einzuführen (was, wie man bereits am Beispiel Kenias gesehen hat, den Totschlag für ganze Wirtschaftszweige zur Folge haben kann).

Einerseits hat die Kommission natürlich recht. Geplant war die – für das Inkrafttreten des Abkommens notwendige – Ratifizierung durch die afrikanischen Parlamente schon lange. Doch ähnlich wie hierzulande der Protest gegen TTIP und Ceta, stemmt sich in der Region die Zivilgesellschaft gegen das Inkrafttreten des Abkommens, und einige Regierungen haben bereits angekündigt, nicht unterzeichnen zu wollen.

Ein fairer Deal?

Kern des Vertragswerks ist die auf die kommenden 35 Jahre ausgelegte, stufenweise Aufhebung von Importzöllen für 80 Prozent aller europäischen Produkte, die in die Märkte der Westafrikanischen Wirtschaftsunion ausgeführt werden. Das klingt zunächst nach einer langen Zeit und einem fairen Deal, insbesondere da umgekehrt die Entwicklungsländer seit langem ihre Produkte ohne, oder zu sehr reduziertem, Zoll in die Europäische Union verkaufen können (womit sich Europa den langfristigen bevorzugten Zugang zu den Rohstoffen der Region sichern wollte).

In Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht, sollten wir uns aber die Zeit nehmen genauer hinzuschauen: Vor allem auf die zahlreichen Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass das Abkommen die afrikanischen Volkswirtschaften deutlich schwächen würde.

Rohstofflager Europas

Mehrere unabhängige Prognosen sagen vorher, dass, wird das Abkommen umgesetzt, bis in 35 Jahren keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden beziehungsweise in einigen Ländern sogar weniger Arbeit verfügbar sein wird. Dabei handelt es sich um Länder mit starkem Bevölkerungswachstum, wesentlich mehr Beschäftigung wird benötigt werden! Langfristig ist es sehr wahrscheinlich, dass billige europäische Exporte den Aufbau höher entwickelter Wirtschafts- und Industriezweige verlangsamen oder verhindern werden – die Länder würden auf absehbare Zeit zu Rohstofflagern Europas degradiert. Daneben werden sich die fehlenden Einnahmen aus den Zöllen negativ auf die staatlichen Ausgaben für Bildung und Sozialleistungen auswirken. Sogar die Vereinten Nationen warnen vor einem deutlich verminderten wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraum für Westafrika.

Warum haben die afrikanischen Länder also je zugestimmt, das Abkommen in der aktuellen Fassung ihren Parlamenten vorzulegen? Wir erinnern uns: Weit stärker als in Europa sind ihre Volkswirtschaften in den Händen multinationaler Unternehmen, und diese haben großes Interesse daran, dass die Parlamente das Abkommen bis zum 1. Oktober ratifizieren.

Es kann nicht Ziel sein, Afrika zu ruinieren

Es gibt jedoch Alternativen, und Europa könnte sich die Zeit nehmen, eine bessere zu finden. Denn wie der französische Europaabgeordnete Emmanuel Maurel es ausdrückte: "Ich glaube nicht, dass es vonseiten der europäischen Kommission den Willen gibt, Afrika zu ruinieren. Es gibt in erster Linie eine ideologische Blindheit (...) Für die Verhandler ist das Routine, 'business as usual': Sie verhandeln alle Abkommen nach dem gleichen Schema, sie stellen sich keine Fragen über die Konsequenzen. Sie kopieren unsere europäischen Vorlagen, obwohl diese mit den afrikanischen Kontexten absolut nichts zu tun haben."

Die Wahrheit liegt wohl wie immer in der Mitte: Vielleicht kann das Abkommen, wie es jetzt auf dem Papier steht und von der Europäischen Kommission gepriesen wird, funktionieren. Doch solange wir nicht alle Stimmen gehört haben, solange wir uns nicht ganz sicher sind, dass wir hier nicht aufgrund kurzfristiger wirtschaftlicher Interessen einiger europäischer Unternehmen weiteren Millionen Menschen die Hoffnung auf ein würdiges Leben in ihrem Heimatland nehmen, sollten wir nichts in Stein meißeln.

Kampf gegen Migration

Im September findet im Europäischen Parlament eine Debatte über das Europäisch-Westafrikanische Wirtschaftspartnerschaftsabkommen statt. Das wird wohl die letzte Chance sein, die Reißleine zu ziehen. Und jeder Politiker, der sich je öffentlich dem "Kampf gegen die Migration" verschrieben hat, sollte großes Interesse daran haben, dieses Thema sehr genau zu verfolgen. (Anna Walch, 31.8.2016)