Warum nicht dort anfangen, wo der 1er aufhört? Beim ersten Rondeau an der Prater Hauptallee nämlich, rund einen Kilometer vom Praterstern entfernt, wo die Straßenbahngarnitur mit selbiger Nummer drauf immer ein paar Minuten in der Endhaltestelle stehenbleibt, bevor sie gegenüber in der Anfangshaltestelle wieder neue Fahrgäste aufnimmt. Dort steht eine alte Frau, betrachtet den Aushang, der die abermalige Sperre der Ringstraße ankündigt, und schreit: "Jedes Wochenende ist irgendwas!"

Was man in anderen Städten als Lob missverstehen könnte dafür, dass so viel los ist in der Stadt, ist hier natürlich als Vorwurf gemeint. Seit es den Prater gibt, und das sind heuer auch schon wieder 250 Jahre, kann man es den Wienern nicht recht machen, und wahrscheinlich geht diese Tradition schon sehr viel weiter zurück.

Die Sportanlage des Askö auf der Spenadlwiese.
fischer

Um diese Tageszeit freilich, in dieser sommerlichen Hitze, ist in dieser Ecke des Praters an der Spenadlwiese gar nichts los. Die Sportanlage des Askö Wien rottet vor sich hin, unter der Stahltribüne findet sich alles, was in den Mistkübel gehört, und grün-weiße Wirtshaussessel, die hier überall herumstehen, werden langsam von Brennnesseln verschlungen. Das ist die sportliche Heimat der Vienna Wanderers, die hier ihre Randsportarten Baseball und Softball betreiben, und im Juni, gegen Ende des Schuljahres, kommen auch immer wieder mal Klassen vorbei, um zu lernen, wie man auf einen Baseball eindrischt. Dann hört man sicher auch Lachen und Kindergeschrei, aber jetzt hört man hier vor allem sehr deutlich: Stille.

Schweinderln? Na ja. Ja!

Es gibt wenige Städte auf dieser Welt, die ein paar U-Bahn-Stationen entfernt von ihrer Stadtmitte, dem Stephansplatz, eine Ruheoase solcher Schönheit haben. Und so groß ist sie auch, dass es Leute wie Karin und Gerhard braucht, um sie sauber zu halten. Die beiden sind hier für die MA 52 unterwegs und kennen buchstäblich jede Ecke im Prater, denn dienstags und donnerstags drehen sie ihre kleine Runde, an den anderen Tagen aber die große inklusive der riesigen Jesuitenwiese, und räumen dabei den Dreck weg, den andere ihnen hinterlassen haben:

"Sind die Leute rechte Schweinderln?", frage ich.

"Na ja."

"Na?"

"Ja!"

Auf der Jesuitenwiese jagt Manfred, mit Sicherheit der drahtigste Mitarbeiter der Casinos Austria, ein paar seiner nicht ganz so drahtigen Kollegen über einen Parcours – Klimmzüge auf dem Kinderspielplatz, Liegestütze gegen eine Parkbank. Und das alles in Radlerhosen und viel zu engen Shirts. Irgendwann hatte er die Idee zu diesem Fitnessprogramm, und bevor am Abend wieder die Karten gemischt werden, muss der Körper jetzt unbedingt noch gedehnt werden. "Bringt das Becken nach vorn!", schreit er ihnen zu, und ich muss an den seligen Fußballtrainer und "Wödmasta" Ernst Happel denken, nach dem das Stadion im Prater benannt ist, der die Sache mit dem Dehnen noch etwas lockerer sah: "Wenn ich dehnen will, dann fahre ich zu den Dänen."

Ich mache mich auf den Weg in Richtung Krieau, eine der wenigen noch verbliebenen Ecken, die keine messbare Rendite bringen.

Prater-Impressionen im Sommer 2016: Auf der Trabrennbahn Krieau, die 1878 eröffnet wurde, ziehen noch immer ein paar Pferde ihre Runden.
Christian Fischer

Traben in der Krieau! Das hieß vor 20, 30 Jahren Live-Übertragung des "Graf Kálmán Hunyady Gedenkrennens" im ORF und jeden Sonntagabend minutenlange Berichte ebendort über "Champions", die Dieter Marz hießen oder noch früher Adi Übleis, und die beide tausende Rennen gewonnen haben – ein jeder tausende! – und dutzende "Derbys", die alljährlichen Rennen der Vierjährigen.

Die "Würschtel" müssen weichen

Dort treffe ich Herrn Engelbrecht, der seit 40 Jahren Trainer ist und immerhin auch 600-facher Rennsieger. Heute quält sich der 68-Jährige mit schweren Lungenproblemen und atmet schwerer als ich: "Ich hab mir halt gedacht, die frische Luft jeden Tag da heraußen, da kann ich ruhig rauchen." Sein Stall liegt am östlichsten Rand des Wiener Trabrennvereins, er muss ihn räumen, denn ein Investor zieht genau dort ein Projekt namens "Viertel Zwei" hoch, neben einem anderen, das "Halb zwei" heißt. Da ist dann kein Platz mehr für die "Würschtel", wie die Pferde in Wien noch immer genannt werden, und deshalb gibt es jetzt mehr Tränen in der Krieau anstatt Trabrennen über 1600, 2100 oder 2600 Meter.

Mit Engelbrecht und seinem Hengst Happy Boy darf ich heute noch ein paar Runden im Doppelsulky im Kreis fahren, bevor die Reise für ihn wer weiß wohin geht. "Dort drüben waren einmal Schrebergartenhäusl", deutet er auf die Gegend, wo heute die U-Bahn fährt, und ins Stadion sind sie als Kinder immer gegangen, um sich dort Speedway-Rennen anzuschauen.

Die verwachsene Tribüne in der Krieau.
Christian Fischer

Und vielleicht kamen die Racer dann herüber in die Krieau und verwetteten auf der Tribüne ein paar "Netsch". Es war nämlich ein schönes Gefühl, am Ende des Renntages durch ein Meer tausender zerknüllter, am Boden liegender Wettscheine nach Hause zu gehen im sicheren Wissen, nicht als Einziger alles verloren zu haben.

Und heute? Sind alle ständig online, und keiner kommt mehr hierher! So gibt es nur noch 21 Renntage im Jahr, während es mal drei pro Woche und insgesamt fast hundert im Jahr waren. Früher gab es 15.000 Euro Preisgeld für den Derbysieg, und heute 750. "Die Haltung eines Pferdes kostet aber schon 800 Euro pro Woche", klagt Herr Engelbrecht, also lautet der häufigste Satz, den man hier zu hören bekommt: "Wie soll sich das alles ausgehen?"

Tut es eh schon lange nicht mehr. Darum ist das hier eine Geschichte auch voller Wehmut, verletzter Ehre und tränenreicher Nostalgie. Und eine Geschichte darüber, wie der moderne Mensch alles, aber auch wirklich alles denen zum Fraß vorwirft, die genug Geld für die ganz großen Mahlzeiten haben. Eine Geschichte voller Wut und Gerüchte auch über uneinsehbare Abrechnungen und versoffene Nachmittage mit den "richtigen" Leuten, die einem alles richten – und zu denen man selbst nie gehört.

Als ein schwarzer Jaguar über das Gelände fährt, wissen alle, wem er gehört, und es fallen unschöne Worte wie "Mafia!" und "Politiker!", und dann noch unschönere, und immer wieder der Satz: "Wo ist denn das ganze Geld hin?" Finanzchef des Vereins soll mittlerweile einer sein, der Laufhäuser betreibt und also gewissermaßen ein Experte ist für alles, was "läuft". Aber ist so einer auch Experte für Finanzen?

Happy Boy ist unglücklich

Wir biegen mit Happy Boy ab vom Trainingsgelände hinüber auf die Rennbahn, mit deren Umbau, so Engelbrecht, ein Schwede beauftragt gewesen wäre, der dann aber nie gekommen sei, um nach dem Rechten zu sehen. Jetzt ist die 1.000 Meter lange Bahn in den Kurven grotesk schief geraten, und nach Fertigstellung hätte man zunächst Beachvolleyballsand draufgeschüttet, in dem die Pferderln aber 20 Zentimeter tief versunken wären, bevor man dann doch noch draufgekommen ist, dass das so nicht geht. Auf dieser Rennbahn würde Happy Boy an einem Renntag auf 50 Stundenkilometer beschleunigen, aber die zehn Baukräne, die sich vor uns in der Kurve erheben, um ein anderes Projekt hochzuziehen, machen Happy Boy ganz unglücklich, also dreht Herr Engelbrecht wieder ab.

Aber die Baukräne rücken der Trabrennbahn näher auf die Pelle. Neben Relikten vergangener Zeiten wachsen neue Büro- und Wohngebäude in den Himmel. Ein Stück weiter ist die Wirtschaftsuni eingezogen.
Fischer

Ich verabschiede mich von Trainer und Pferd in Richtung der Rustenschacherallee, die so etwas wie die Straße des Sports im Prater ist. Auf Nummer neun residiert der Tennisclub Wac, "Mitglied der Union", auf Nummer sieben der SV Schwarzblau. Ich folge einer feinen Dame mir ihrer Tochter und den Enkerln, um herauszufinden, ob hinter den Toren entsprechende Koalitionsgespräche geführt werden, aber beim Eingang ist für mich Schluss. "Privat!" Wenn ich Fragen hätte, dann könne ich den Obmann anrufen: "Er heißt Ropper und ist mein Mann."

"Danke."

"Dr. Ropper."

"Danke, Frau Doktor."

"Nicht ich. Er!"

Die wirklich G'stopften haben ihren Platz, ach was: ihren Park, sowieso woanders, nämlich auf Hausnummer 1 in der Allee, und dort bin ich dann herzlich willkommen. Das ist die Adresse des legendären "Wiener Park Club seit 1881", natürliche Selektion durch Höhe der Einschreibegebühr sowie des Mitgliedsbeitrags sichert ein gewisses Niveau, macht aber auch lockerer.

Heute findet hier ein Legendenturnier statt, neben den Spielen zur Damenmeisterschaft. Jener Milliardär, der am Wiener Eislaufverein investiert und dort "ein Projekt hochziehen" möchte, ist auch anwesend. Er ist sehr schmal, alles drängt bei ihm hin zur Längsachse, und sein schönes Haar trägt er wie gemeißelt.

Die weiße Tennisdress ist auch hier vor allem: ein Gleichmacher. Selbst Stefan Koubek, Exweltstar, kann darunter sein kleines Bäuchlein nicht mehr verbergen; Legende Hans Kary raucht mit sehr ordentlicher Wampe seine Zigarillos; Legende Peter Feigl soll in New York auf einer Geburtstagsparty sein, taucht aber doch auf. Und auch er hat ordentlich zugelegt seit den Tagen, als er für Österreich Daviscup spielte.

Hochschaubahn im Prater.
Foto: APA/Schlager

Auf dem Grill stapeln sich Bratwürste und Käsekrainer, und davor sitzt Frohnatur Peter Eipeldauer, der 40 Jahre lang österreichischer Tenniscoach war und immer noch fit wie ein Tennisschuh ist. Er träg einen Satz sehr weißer Zähne mitten im gebräunten Gesicht, so, als gehörte auch der zu den strengen Vorschriften wie die weiße Kleidung. Nach ein paar dürren Jahren – Handy! Computer! Internet! –, erzählt er, hätten sie hier nun bald wieder die ideale Mitgliederzahl von 800 erreicht.

Eine halbmagersüchtige Zehnjährige mit getapten Knien läuft vorbei und sagt zu einer anderen: "Die Polly ist heute abwesend." Die beiden sind wohl zwei von achtzig Kindern, die hier ausgebildet werden, während die Mütter im Gastrobereich ihr Glaserl trinken und über die "Randale am Praterstern" reden, "High Heels in die Weichteile", lautet ein guter Tipp. Ausbildung der Kinder mit Ziel Weltrangliste?, frage ich den Meister, aber der lacht: "Na ja. Ich glaube, die Kinder haben genug zu tun, das Lycée abzuschließen."

Richard Nimmerrichter, früher als Staberl im Dienste seines Herren Hans Dichand unterwegs und also Legende aller Legenden, ist jeden Tag hier. Vormittags, erzählt Eipeldauer, fährt er unvorstellbare Strecken mit seinem Rad, dann geht er hier in die Kraftkammer, dann in die Sauna. Aber niemand geht mit ihm in die Sauna, denn "seine Aufgüsse sind echt hart". Wenn er dann nichts zu tun hat, liegt Nimmerrichter im Solarium, angeblich soll er richtig braun sein. Und in Gesellschaft, als Unterhalter, sei er sowieso unschlagbar: Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. Und natürlich Weibergeschichten!

Der Gentleman und seine G'schichten

Darüber könnte auch Peter Eipeldauer ein paar Stunden, vielleicht Tage erzählen, wenn er nicht ein Gentleman durch und durch wäre, nur so viel: Geheiratet hat er nie, denn dann wäre die eine oder andere wahrscheinlich böse gewesen, und auf die eine oder andere hätte er vielleicht verzichten müssen, was er keinesfalls wollte. Ihm gehörte ja auch noch in Teilen das Atrium am Schwarzenbergplatz, das vor vielen Jahren eine der wenigen Fortgehadressen in der Stadt war, und er durfte sein junges Leben in einer Zeit genießen, als in Wien noch "geschnackselt" wurde und Aids nicht einmal in New York, wo sie ja immer ein paar Jahre voraus sind, irgendjemandem etwas sagte. Jetzt, im Spätsommer seines geglückten Lebens, kommt er jeden Tag hierher in den Club, wenn er nicht gerade mit den Internationalen Tennispensionisten in Kanada, der Karibik oder wie nächste Woche in Paris bei Roland Garros ist, seinem Lieblingsturnier. Es kann vorkommen, dass er mal vor Mitternacht nach Hause geht, aber oft passiert das natürlich nicht, denn hinten im Garten haben sie jetzt nämlich auch einen Pool.

Das Schweizerhaus.
APA/

Als ich in den Wurstelprater komme, orientiere ich mich am Prater Tower, der die Wagemutigen 107 Meter in ihren Karussellsitzen hinaufdreht, aber nicht heute, denn es regnet. Ich gehe zur gegenüberliegenden Luftdruck- und Dosenwurfhalle, wo ein netter Mann mit breitem, dunklem Gesicht im Regen herumsteht und ganz melancholisch ist. "Heute ein Kunde am Gewehr, einer an den Dosen", sagt er, dabei ist es schon halb fünf Uhr nachmittags, in einer halben Stunde wird er zusperren.

Im Schweizerhaus daneben liegen Blätter und herabgefallene Äste auf den Tischen, die nicht überdacht sind, ein Sturm hat sie herabgepeitscht. In der riesigen Nirosta-Küche gleich beim Eingang stapeln sich die vorbereiteten Salatgarnituren, die heute wohl keine Abnehmer finden werden, und nur zwei Teller mit Krenn, Senf und Ketchup darauf stehen bereit für die Stelzen.

Wo die Liebe hinfällt!

Spielhallen sind Klassiker im Prater, in einem Ferrari-F355-Cockpit fährt ein vielleicht 70-Jähriger mit Schnauzer, Typ Clay Regazzoni, seine Runden, und das vielleicht schon seit den Tagen, als Niki Lauda Weltmeister wurde. An einem Automaten daneben vertrödeln zwei Zehnjährige rechtschaffen ihre Zeit, neben ihnen versenkt ein Poseur Basketbälle für die, die ihn dabei anhimmelt, in einem Korb. Wo die Liebe hinfällt! Um die Ecke: "Let's twist again, like you did last summer". Volle Lautstärke.

Erich sucht in der Flipperhalle seine Sonnenbrille. Dort stehen an der Wand zehn Stück dieser feuchten Träume aller in den 1970er- und 1980er-Jahren groß Gewordenen, sie heißen Indiana Jones, Terminator oder Avenger.

Ding! Bling!

Es gibt keine Geräusche auf dieser Welt, die schöner wären als die eines hart bearbeiteten Flipperautomaten. Erich, über 50, spielt am liebsten mit dem Madness, den es in Wien nur einmal gibt, nämlich hier. Drei Euro für drei Kugeln ergibt eine Stunde Spielvergnügen. Viele spielen heute nicht mehr Flipper, vereinzelt kommen Paare hierher, die ihre gemeinsame Leidenschaft pflegen, oder kleine Gruppen, die gegeneinander spielen. Am schönsten, sagt Erich, wäre es hier gleich um zehn Uhr morgens, wenn die Halle aufsperrt, dann wäre es herrlich ruhig.

Riesenrad und Hochschaubahn: Nur ein Teil des Wurstelprater.
apa/pfarrhofer

Beim Ausgang, oder beim Eingang des Wurstelpraters, je nachdem, laufe ich noch einem über den Weg, der gerade Max Ottes "Der Crash kommt" gelesen hat. Er arbeitet für eine der GmbHs, die hier das Sagen haben, darf aber nicht sagen, für welche, und auch seinen Namen nennt er lieber nicht. "Hier herrscht ein Klima der Angst!", so viel kann er sagen, und darum macht er sich so seine Gedanken über "die große Welt und die kleine, in der die große ihre Probe hält". So nennt er den Prater, den er, später 1950er-Jahre-Jahrgang, seit seiner Kindheit kennt, jedenfalls seit er noch "wienerischer" war und es "Originale gab, die heute nur noch in homöopathischen Dosen herumlaufen".

Endstation der Straßenbahnlinie 1 in der Nähe der Prater Hauptallee.
Fischer

Stattdessen gebe "Big Business den Ton an, seit alles umgebaut wurde", zwar nicht übermäßig big, aber schon big genug, um sich zu fragen, warum man ihn von April bis Oktober mit 1.100 netto abspeist und ihm seine pauschalierten 50 Überstunden pro Monat nicht abgegolten werden. Dabei, sagt er, sähen die Zahlen auf der Einnahmenseite doch ganz gut aus: "Am 1. Mai wurden nur an der einen Station da drüben 5.000 Karten zu 4,50 verkauft ... Jetzt rechne dir aus!"

In seiner Freizeit trainiert er Hunde oder beschäftigt sich mit Wölfen, deren Rudelstruktur ihn fasziniert: "Das Rudel überlebt durch den umsichtigen Führer, der schaut, dass es allen gutgeht, dass keiner Angst hat. Dominanz ohne Terror. Die sozial intelligentesten Tiere setzen sich durch. Wir hingegen wählen uns meistens die auffälligen, psychotischen Arschlöcher als Anführer."

Die Dame an der Haltestelle der Linie 1 wird jedenfalls ihre eigene Meinung dazu gehabt haben: "Jedes Wochenende ist irgendwas!"

(Manfred Rebhandl, 30.8.2016)