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Umstrittener Modernisierer: Kemal Atatürk (1881-1938).

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Man kann ihn nicht verhaften lassen, auch nicht aus dem Programm nehmen oder sein Unternehmen zwangsverstaatlichen und dann an Parteifreunde verscherbeln. Es gibt ihn ja nicht mehr. Er hat keine Wohnadresse und kein Bankkonto. Und doch ist Kemal Atatürk allgegenwärtig in seinem Land.

Für viele ist das jetzt ein ungeheurer Trost. Die letzte Planke, an die sie sich klammern, während die Türkei nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli in Richtung einer gewählten, zivilen Diktatur russischer oder zentralasiatischer Machart davonzuschwimmen scheint, angetrieben von Tayyip Erdogan, der nun mit der noch größeren Machtfülle des Ausnahmezustands regiert. Atatürk ist die Rettung. Oder so wollen zumindest jene glauben, die es nun mit der Angst zu tun bekommen.

Ahmet Hakan, der Kolumnist und Fernsehmoderator, der im vergangenen Jahr nachts vor seinem Haus in Istanbul von Erdogan-Anhängern verprügelt worden war, hat dieser Tage eine Art Glaubensbekenntnis geschrieben, einen Reuebrief an den toten Staatsgründer in sieben Punkten.

"Recht oft habe ich deine Haltung kritisiert, als du dein Gesicht ganz nach Westen gewendet hast", so beginnt Hakan und fährt fort: "An dem Punkt, den wir heute erreicht haben, sage ich: 'Glücklicherweise hast du dein Gesicht und unsere Gesichter Richtung Westen gewendet', und ich habe dem nichts hinzuzufügen."

Jagd auf das Gülen-Netzwerk

Atatürks Orientierung nach Europa, sein Beharren auf Bildung und auf das Prinzip des Säkularismus, seine Abneigung gegenüber religiösen Gemeinschaften und Bünden, wie sie im Osmanischen Reich üblich waren, erscheinen heute plötzlich zeitgemäßer denn je in den bald 100 Jahren der türkischen Republik.

Ungläubig und mit Unverständnis verfolgt man in Europa die Jagd auf das geheime Netzwerk, das der Prediger Fethullah Gülen im türkischen Staat geknüpft haben soll, mit Richtern, Journalisten und Armeegenerälen, die ihm hörig sind. Wie kann es so etwas geben – in einem modernen Staat, der Nato-Mitglied ist und der EU beitreten will?

Ahmet Hakan hat auch Spott für sein Reuebekenntnis geerntet. Nicht so sehr von den konservativen Frommen im Lager des Staatspräsidenten Erdogan als von den Liberalen, der kleinen städtischen Minderheit in der Türkei. Denn Mustafa Kemal Atatürk – Einführer der verpflichtenden Hutmode und des lateinischen Alphabets, Zwangsassimilierer und Kultfigur – ist längst einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen worden. Das Stadium der Atatürk-Glorifizierung hat das Land eigentlich schon hinter sich gebracht.

Autoritätsgläubige Generation

Seit Erdogans konservativ-islamische AKP 2002 die Regierung übernahm, seinerzeit durchaus unterstützt von der liberalen Intelligenz, ist die türkische Gesellschaft reifer geworden. Eine neue bürgerliche Mitte – religiös, kapitalistisch, wohl auch provinzieller – hat das alte Establishment von Armee und Beamten abgelöst.

Kemalistisch und autoritätsgläubig war es, die Kurden hat es verachtet. "Glücklich, wer sich Türke nennen kann", steht heute noch zusammen mit Atatürks Konterfei auch auf einer Fassade im Zentrum von Diyarbakir, der Hauptstadt der Kurden in der Türkei.

Doch mit Erdogans spürbar autoritär werdender Herrschaft ab 2011, mit der verfehlten Syrienpolitik, der Serie an Terroranschlägen und dem Putsch angeblich islamistischer Offiziere hat Atatürk neue Zugkraft gewonnen. Man lächelt weniger über die Großeltern, die gerührt mit den Händen über Schwarzweißbilder des Republikgründers streichen.

Der "stehende Mann"

Atatürk ist die Referenz: Erdem Gündüz, der Performancekünstler, der bei den Gezi-Protesten 2013 als "stehender Mann" berühmt wurde, harrte acht Stunden auf dem Taksim-Platz aus, den Blick stur auf das leere, längst geschlossene Atatürk-Kulturzentrum gerichtet, bis die Polizei kam.

Greifbarer wird der 1881 im heutigen Thessaloniki geborene Offizier und erste Präsident deshalb nicht. "So sehr ich mich auch anstrenge, ich nehme Atatürk nicht als Menschen, als Mann wahr", schrieb Ece Temelkuran in ihrem 2015 erschienenen Psychobild der Türkei mit dem Titel "Euphorie und Wehmut": "Eine Figur, deren Bild ich so oft gesehen habe – vom ersten Schultag bis zum letzten Universitätssemester hing es mir von morgens bis abends vor der Nase –, als Menschen wahrzunehmen, ist nahezu unmöglich."

Atatürk ist eine politische Prinzipiensammlung. Der Gegenentwurf zu Tayyip Erdogan, der ihn aus dem Gedächtnis der Nation radieren will. Und der Ersatz für eine Opposition, die es nicht schafft, den amtierenden Staatschef und dessen Partei abzulösen.

Der "Vater der Türken" aber, wie Atatürks Ehrenname übersetzt lautet, vereint heute noch eine große Gefolgschaft in der so komplizierten, zersplitterten türkischen Gesellschaft. Mehr als 40 Prozent der Wähler beschreiben sich als Nationalisten und als "Atatürkcü" – als Atatürk-Anhänger; 26 Prozent als "traditionelle" und als "religiöse" Konservative.

"Alles, was uns auf den Kopf gefallen ist, kommt von den Atatürk-Feinden", sagt Ahmet Yavuz, ein Ex-General. Die Gülenisten brachten ihn mit einem der fabrizierten Massenprozesse von 2010 zeitweise ins Gefängnis. Der General spricht vielen Türken aus der Seele. Als größter Atatürk-Feind aber gilt Tayyip Erdogan. (Markus Bernath, 28.8.2016)