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Doppelrollen, Parallelwelten, Verstrickungen und Rätsel: Heinrich Steinfest erweist sich einmal mehr als ein Erzählkünstler voll gewitzter Einfälle.

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Ein Blinder spielt Golf. Er werde jetzt den schwierigsten aller Schläge schaffen, sagt er, den "doppelten Albatros", sehr weit, gar durch ein Wäldchen hindurch, direkt ins Ziel. Nach diesem Erzähler übernimmt der Spatz Quimp in Paris das Roman-Ich, er träumt von jenem Golfspiel. Sodann spricht der Kriminalkommissar Blind, den wiederum seine Schlafgespinste in die Haut des Spatzen versetzen. Kein Zweifel, wir sind in einem Buch von Heinrich Steinfest.

In seinen erfolgreichen Krimis um den einarmigen Wiener Chinesen Cheng hat er bisweilen die Grenzen der Realität verwischen lassen, und der zuletzt publizierte Roman Das grüne Rollo beruht auf der Vorstellung einer "anderen Seite". Noch elaborierter, sogar mit einem verständlichen Einsatz der Quantentheorie, schildert nun Das Leben und Sterben der Flugzeuge eine bestens verzahnte Geschichte in zwei Parallelwelten: in der uns bekannten und in einer ihr ähnlichen. Die Passage zwischen den beiden ist der Traum. Jedes Subjekt, ob Mensch oder Tier, jedes Objekt hat ein Äquivalent auf der anderen Seite, einen "Traumpartner", lautet die klug inszenierte Grundidee.

Eine gegenseitige Substitution, eine "Verwischung" als Weltenwechsel ist möglich – und im Roman an entscheidenden Stellen gefinkelt eingesetzt. So schafft Steinfest eine packende Mischung aus Agenten-, Kriminal- und Gesellschaftsroman, in dessen Fiktion zudem tatsächlich Rätselhaftes wie das Verschwinden des Malaysia-Flugzeugs eine originelle Erklärung findet. Und die gekonnte Verschränkung der Motive gibt auch dem Vogel Albatros eine doppelte Rolle.

Dem jungen Quimp fällt beim Bahnhof Montparnasse ein abgestürzter Spatz auf den Kopf, mit seinen letzten Worten schickt ihn der sterbende "Doppelagent" nach Wien. Er müsse dort den legendären, kanonisch alten Artgenossen Pinesits warnen, der als einziger den Zugang zu den Sperks kenne.

Diese hochtechnisierten Spatzenkrieger haben einen schier unbesiegbaren Stoff entwickelt, den sich ihre menschlichen Feinde, die Totalisten, unbedingt unter den Nagel reißen wollen. In München erhält indes Kommissar Blind den Auftrag, einen zu den Akten gelegten Selbstmordfall neuerlich zu untersuchen. Er kommt in Kontakt mit der merkwürdigen Interventionstruppe des "Golden Awakening", bald darauf konstatiert er, dass anstelle des zu Lebzeiten validen Konzernchefs und Erfinders eine nur einbeinige Leiche aufgefunden worden war.

Der Verstrickungen und Rätsel genug, um eine vielschichtige Spannung in Gang zu setzen. Gekonnt wie immer spielt Steinfest dabei mit der Mischung aus Aufklärung (im zweifachen Sinn: Geistesströmung sowie Ermittlung) und Romantik, aus deren historischer Sphäre beileibe nicht nur die intelligenten sprechenden Tiere kommen. Auch sie liefern hier die typischen steinfestschen Gesellschaftskommentare. Allerdings stören ein paar Einschübe die Erzählökonomie, etwa wenn gegen Ende des umfangreichen Romans eine retardierende Erklärung über das Wesen des Wiener Belvedere erfolgt, die aus Wikipedia (ein zu simpler Witz: "Wiki ohne die starken Männer") zu stammen scheint.

Die meisten Erörterungen lassen freilich an Prägnanz oder Skurrilität nichts zu wünschen übrig. Wenn ein Spatz über das Christentum als "eine Religion des Sterbens" philosophiert oder sich fragt, ob Menschen so viele Fotos von ihren Kindern schießen, "um sie beim nächsten Mal wiederzuerkennen". Oder die Charakterisierung des Wienerischen, das an jemanden erinnere, "der sich mit seinem Rücken voran bewegt, aber seinen Mund am Hinterkopf trägt"; er rede also praktisch nach vorn, schaue jedoch nach hinten.

Vergnüglich spielt Steinfest mit den zwei Welten. Fehlerlos seien sie freilich nicht verzahnt. So mag man eben nachsichtig hinnehmen, dass seinen Erzählern Fehler unterlaufen (der irische Fußballer Georgie Best war definitiv kein Mittelfeldspieler!). Ja, einige unlogische Formeln – "wie ein Wunder" oder "im wahrsten Sinn" – sind in diesem Kontext durchaus am Platz.

Denn diese Welten bestechen in ihrer Vielfältigkeit und in einem Motivnetz, das von einem ungemein realistisch gemalten Tautropfen über Tränen bis zum Showdown im Belvedere reicht. Das – auch zeitliche – Auseinanderklaffen der Parallelwelten eröffnet faszinierende Möglichkeiten. Ein lang vor dem Tag seines Absturzes aufgefundenes Flugzeugwrack erscheint "als eine archäologische Fundstätte", die in die Zukunft zeigt. Der Schlaf sei eine Illusion, nicht der Traum, heißt es.

Manchen Kritikern mag Heinrich Steinfest romantisch verspielt vorkommen und ohne sprachliche Volten zu ungebrochen erzählen. Ein Erzählkünstler voller gewitzter Einfälle ist er gewiss. Wenn man Literatur als Fiktion ernst nimmt, kann und darf sie alles, nicht zuletzt unsere Realitäten außer Kraft setzen. Dem hierzulande gern geäußerten Lob der Abbildungskraft gilt es durchaus ein Lob der Einbildungskraft beizugesellen. (Klaus Zeyringer, Album, 27.8.2016)