Bevor er zu 20 Jahren Haft (für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Anstiftung von Muslimen, sich der Terrororganisation Islamischer Staat anzuschließen, sowie Anstiftung zu Mord und Nötigung, Anm.) verurteilt wurde, lobte Mirsad O. in seinem Schlusswort beim Gerichtsverfahren in Graz die Toleranz der österreichischen Institutionen, besonders den Wiener Stadtschulrat. "Sie haben mich sofort akzeptiert." Es folgte eine Anstellung als Volksschul-, später als Hauptschullehrer. Auch Salafismus und Wahhabismus seien durch das Islamgesetz erlaubt, und man dürfe "alles sagen".

Ist Österreich zu tolerant geworden? Henryk Broder (Kritik der reinen Toleranz, 2008) würde sich bestätigt fühlen. Wegschauen, Verharmlosen, Ignorieren. Ist das aber noch Toleranz?

Ohne Hirn

Toleranz sollte nicht als Relativismus missverstanden werden. Bei diesem Relativismus ist "alles relativ" und man kann "alles auch anders sehen", denn es gilt die Maxime "Anything goes". Paul Feyerabend hätte mit dieser Toleranz vielleicht seine helle Freude gehabt. Philosophisch kann diese Offenheit für alles und jeden wenig überzeugen: "They have become so open-minded that their brains are falling out."

Sie ist auch politisch gefährlich. Eine andere deformierte Form der Toleranz ist die Toleranz missverstanden als Gleichgültigkeit oder Indifferenz, als Verlust eigener Überzeugungen. Nietzsche meinte: "Meine Furcht ist groß, daß der moderne Mensch für einige Laster zu bequem ist: so daß diese geradezu aussterben." An die Stelle der Bereitschaft, trotz eigener Überzeugungen die divergierenden Überzeugungen anderer zu ertragen und zu respektieren, tritt die Bequemlichkeit, die Konfrontationen vermeidet. Ein Beispiel für beide missverstandenen Formen der Toleranz sind vielleicht die Verharmlosungen von saudischen Exekutionen durch die frühere Generalsekretärin des Wiener King-Abdullah-Zentrums, Claudia Bandion-Ortner.

Toleranz kann verschiedene Bedeutungen haben, wie etwa Rainer Forst (Toleranz im Konflikt, 2003) ausgeführt hat. Toleranz in der ersten Bedeutung, der "Erlaubniskonzeption" von Toleranz, umfasst die Duldung der Angehörigen anderer Bekenntnisse durch den Fürsten, den Staat oder die religiöse Mehrheit. Gemäß der "Koexistenzkonzeption" fällt Toleranz mit der rechtlichen Verpflichtung "zur Anerkennung Anderer – als Individuen und als Gruppen – nach Maßgabe der Gleichheit" (Werner Becker) zusammen. Die moralische Tugend der Toleranz ist der respektvolle Umgang mit Anderen und das Bemühen um wechselseitige Perspektivenübernahme auf der Suche nach der Wahrheit und der gemeinsamen Humanität. Die Beteiligten sind gleichberechtigt, und der Respekt ist symmetrisch.

Wo liegen die Grenzen der Toleranz? Jede Form der Toleranz beinhaltet zumindest drei Gesichtspunkte: die Anerkennung des gemeinsamen Menschseins, das wechselseitige Zugeständnis von Wahrheitsfähigkeit und das Eingeständnis von eigener Irrtumsanfälligkeit. Wo diese Wechselseitigkeit oder Symmetrie nicht gegeben ist, kann die Toleranz die Intoleranz nicht mehr tolerieren.

Das ist paradox, wie Jürgen Ebach ausgeführt hat, da sich dabei die Toleranz selbst aufhebt. Dieses Paradoxon besteht aber vor allem für die moralische Tugend der Toleranz. Die Institutionen des säkularen Rechtsstaates trennen Religionen, Religionsgemeinschaften und umfassende religiöse Weltbilder vom Staat, von der Moral und vom Recht. Starke ethische oder religiöse Konzeptionen des guten Lebens von Einzelnen und (Religions-)Gemeinschaften dürfen nur dann toleriert werden, wenn sie "allen anderen dieselben Ausdrucksformen und Sonderrechte ebenfalls zuerkennen" (Otto Kallscheuer).

Der demokratische Rechtsstaat darf und soll sich mit den Mitteln des Strafrechts gegen Personen zur Wehr setzen, die diesen Staat und seine Institutionen unter Missbrauch der Toleranzforderung mit Worten oder Taten bekämpfen. Er verhält sich damit gegen seine Feinde intolerant, ohne sich dabei zu widersprechen.

Streitbarer Rechtsstaat

Der streitbare Rechtsstaat sollte allerdings vermeiden, im Namen der Rechtssicherheit durch die Verkleinerung von Freiheitssphären seine eigene rechtsstaatliche und demokratische Substanz zu zerstören. Grenzziehungen sind in solchen Fällen immer schwierig; die politische Urteilskraft ist aufgefordert, rechtsstaatliche und moralische Prinzipien mit Erwägungen der Klugheit den Erfordernissen anzupassen.

Bedeutet das nun einen Generalverdacht gegenüber Muslimen und Musliminnen? Nein, aber es wird nötig sein, zum Beispiel bei Neuanstellungen von Bewerbern, die etwa wie Mirsad O. in Saudi-Arabien studiert haben, nachzufragen, was sie von Wahhabismus, Salafismus und der säkularen Trennung von rechtlicher Sphäre und Religion halten. Es ist zu befürchten, dass mit jedem Terroranschlag und bei einer Wiederholung ähnlicher Fälle die Mehrheitsgesellschaft jede Form von Toleranz aufgeben wird, nicht nur ihre deformierten Varianten. Auf der Strecke bliebe ein Stück Aufklärung, die versucht, auf ein simples Freund-Feind-Schema zu verzichten, und damit auch eine etwas humanere Gesellschaft. (Georg Cavallar, 19.8.2016)