Die Oxford Street im Herzen Londons ist voll kauffreudiger Besucher wie eh und je. So hat der britische Einzelhandel im Monat Juli ein Umsatzplus von 5,9 Prozent verzeichnet.

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Die britischen Konsumenten haben in den ersten Wochen nach der Brexit-Entscheidung den vorhergesagten Wirtschaftsschock ignoriert. Zahlen des Statistikamtes ONS zufolge machte der Einzelhandel auf der Insel im Juli ein Umsatzplus von 5,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Da auch die jüngsten Arbeitsmarktdaten positiv ausfielen, zweifeln Ökonomen in London nun an der Weisheit der Zentralbank, die Anfang August den Leitzins auf das Rekordtief von 0,25 Prozent senkte.

Im Regierungsviertel Whitehall sorgt der geplante EU-Austritt weiter für Aufregung. Zunehmend scheint selbst enthusiastischen Brexit-Befürwortern zu dämmern, wie komplex die bevorstehende Aufgabe ist. Schon ist von einer weiteren Verschiebung der Verhandlungen mit Brüssel die Rede. Vor der Volksabstimmung am 23. Juni hatten Regierung und Bank of England sowie die große Mehrheit der Forschungsinstitute und City-Ökonomen im Fall des Brexit vor einer erheblichen Beeinträchtigung der Volkswirtschaft gewarnt.

Immobilienmarkt stockt

In den Tagen nach dem 52:48-Votum gegen die weitere EU-Mitgliedschaft sprach Notenbank-Gouverneur Mark Carney von "posttraumatischem Stress". Seither hat eine Reihe von Umfragen den Schluss nahegelegt, die im zweiten Quartal um 0,6 Prozent gewachsene Wirtschaft werde in der zweiten Jahreshälfte erheblich schrumpfen, womöglich sogar in die Rezession rutschen.

Alarmierende Nachrichten gab es vom Immobilienmarkt, der im Land der Hausbesitzer als wichtiger Indikator für die wirtschaftliche Stimmung gilt. Im Juli fielen Nachfragen auf den niedrigsten Stand seit dem Finanzkrisenjahr 2008, Bausachverständige gaben sich so pessimistisch wie noch nie in diesem Jahrhundert. Die Bauwirtschaft verzeichnete zu Monatsbeginn den stärksten Auftragsrückgang seit sieben Jahren. Die Industrieproduktion schrumpfte im Juni um 0,3 Prozent – verglichen mit Mai.

Touristen profitieren

Hingegen frönten die Briten im Juli unbeirrt ihrer Kauflust, dabei unterstützt von ausländischen Touristen. Deren Kaufkraft schnellte nach dem Brexit-Votum in die Höhe, weil der Pfundkurs gegenüber Dollar, Euro und Yen um rund zwölf Prozent gesunken war.

Die überraschend guten Zahlen des Einzelhandels begründete Joe Grice vom Statistikamt vor allem mit "besserem Wetter" und den im Vergleich zu Juli 2015 um zwei Prozent gesunkenen Preisen. Zudem hatten die Briten in den Monaten vor dem Referendum spürbar vor Einkäufen zurückgescheut. Dass der Brexit-Effekt ausgeblieben sei, bezeichnete John Hawksworth vom Rechnungsprüfer PwC als "so weit, so gut".

Hingegen warnte Volkswirt Samuel Tombs von der Beratungsfirma Pantheon davor, die "glückliche Unkenntnis" der Konsumenten überzubewerten. Angesichts zurückgehender Reallöhne sowie steigender Inflation von zuletzt 0,6 Prozent habe der Einzelhandel harte Monate vor sich.

Kompetenzgerangel im Kabinett

Gleiches gilt für die Londoner Beamtenschaft. Auf den niedrigsten Personalstand seit Ende des Zweiten Weltkriegs geschrumpft, müssen die Staatsdiener das in vier Jahrzehnten gewachsene hochkomplexe Geflecht britischer und europäischer Regeln aufdröseln und sich für die Verhandlungen mit Brüssel rüsten. Dafür gibt es keinen Präzedenzfall.

Die neue Premierministerin Theresa May hat drei führende Brexit-Befürworter ins Kabinett geholt. Wie nicht anders zu erwarten, kommt es zwischen den dreien zu Kompetenzgerangel. So wollte Freihandelsminister Liam Fox die gesamte Handelsabteilung des Foreign and Commonwealth Office (FCO) in sein neu gegründetes Haus holen, da ihm Hunderte erfahrener Handelsexperten fehlen.

Außenminister Boris Johnson lehnte dankend ab: Der Kollege dürfe sich einige Spitzenleute ausleihen, mehr nicht. Das einst mächtige FCO hat ohnehin in den vergangenen Jahren immer mehr an Einfluss und Personal verloren, der Brexit führte zu neuerlichem Aderlass. So musste Johnson seine Europaabteilung und die britische EU-Vertretung in Brüssel an das ebenfalls neu gegründete Brexit-Ministerium (DExEU) unter David Davis abgeben. (Sebastian Borger aus London, 19.8.2016)