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Spätestens seit den Pro-Erdogan-Demos in Deutschland (Bild: Köln) ist die bilaterale Lage angespannt.

Foto: AP / Martin Meissner

STANDARD: In deutschen und österreichischen Städten ist es zuletzt zu Demonstrationen von Türken für Staatspräsident Tayyip Erdoğan gekommen. Wie stehen Sie dazu?

Kiziltepe: Grundsätzlich ist es legitim, dass Menschen ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Partei kundtun. Solche Kundgebungen stoßen dann an Grenzen, wenn Andersdenkende nicht respektiert oder gar attackiert werden. In Köln wurde Erdoğan-Gegnern offen mit Gewalt gedroht, es gab Aufrufe der türkischen Regierung, regierungskritische Leute oder Anhänger der Gülen-Bewegung den Behörden zu melden. Dieses Denunziantentum dürfen wir nicht tolerieren.

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Kiziltepe: Die Türkei ist gespalten, Erdoğan hat rund 50 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Das heißt aber auch, dass ihn 50 Prozent ablehnen. Diese Spaltung manifestiert sich auch unter den Türken in Deutschland. Sie zeigt sich in Freundeskreisen, in Familien, unter Bekannten.

STANDARD: Sie äußern sich kritisch zu Erdoğans Politik und haben auch die Armenien-Resolution im Bundestag mitgetragen. Sehen Sie sich als Abgeordnete Anfeindungen von türkischer Seite ausgesetzt?

Kiziltepe: Ich bekomme entsprechende Briefe, Zuschriften und Mails, auch über soziale Medien werde ich aufgefordert, mich in Deutschland politisch für mein Ursprungsland – also die Türkei – einzusetzen. Im Zuge der Armenien-Resolution wurde ich von türkischer Seite dazu aufgerufen, ich müsse die türkischen Staatsinteressen vertreten. Ich habe aber stets klargemacht, dass ich mich in meinen Entscheidungen nicht von außen beeinflussen lasse. Ich bin deutsche Politikerin, und so agiere ich auch.

STANDARD: Würden Sie momentan die Türkei besuchen?

Kiziltepe: Nein, das wäre zu riskant. Davon wurde uns vom Auswärtigen Amt auch abgeraten. Es ist nicht auszuschließen, dass ich festgenommen würde.

STANDARD: Wie kann es sein, dass Menschen türkischer Abstammung, die – wie Sie selbst auch – in Deutschland geboren sind, einem Quasi-Autokraten zujubeln?

Kiziltepe: Man muss von einem Versäumnis des deutschen Staates sprechen. Die Deutschtürken fühlen sich seit 50 Jahren nicht anerkannt, diskriminiert und nicht integriert. Bis ins Jahr 2000 hat sich die Politik gar nicht um diese Menschen gekümmert. Gekommen waren die Türken als Gastarbeiter, und als solche hat man sie auch behandelt: Ein türkisch-arabisch klingender Name ist bei der Job- und Wohnungssuche hinderlich. Die mangelnde Integration führt zu schlechteren Chancen auf dem Bildungs- und dem Arbeitsmarkt. Diese Menschen empfinden sich als nicht dazugehörig.

STANDARD: Und sitzen deshalb dem türkischen Staatspräsidenten auf?

Kiziltepe: Wenn da einer kommt wie Erdoğan, die Leute direkt anspricht und ihnen seine Unterstützung zusichert und davon spricht, sie dürften sich nicht assimilieren, dann wirkt das sehr anziehend auf viele Menschen. Die Leute suchen nach Orientierung und erhalten sie dort, wo sie sich zugehörig fühlen. Für Deutschland heißt das, die Integrationsbemühungen zu erhöhen. Anerkennung erhält man durch Bildung und Beruf. Wenn es hier hapert, muss man sich nicht wundern, dass sich junge Menschen abwenden.

STANDARD: Die EU hat sich in der Flüchtlingskrise in Abhängigkeit Erdoğans begeben. Ein Fehler?

Kiziltepe: Aus europäischer Sicht darf man sich von der Türkei nun nicht erpressen lassen. Ansonsten muss in der Flüchtlingskrise eine andere Lösung gefunden werden. Eine solche Lösung wäre ohnehin anzustreben. Doch leider fehlt es an Solidarität in Europa. Österreich hat wegen des Flüchtlingszustroms einen inneren Konflikt, Ähnliches gilt für osteuropäische Länder. Alle weigern sich, Flüchtlinge aufzunehmen.

STANDARD: Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern bezeichnet einen EU-Beitritt der Türkei als "diplomatische Fiktion". Ist das auch Ihre Meinung?

Kiziltepe: Ja, so wie sich die Türkei entwickelt, muss in der Flüchtlingskrise eine andere Lösung gefunden werden, etwa mit Griechenland. Ich wiederhole: Die EU darf sich von der Türkei nicht erpressen lassen. Es geht um Prinzipien und Werte, die wir verteidigen müssen. Wenn der Deal platzt, muss eine andere Lösung her. Wenn die Türkei die Todesstrafe wiedereinführen sollte, muss dies zum vorläufigen Stopp der Beitrittsverhandlungen führen.

STANDARD: Soll die EU nicht gerade jetzt ihren Einfluss hochhalten?

Kiziltepe: Den Flüchtlingsdeal braucht die EU nicht um jeden Preis. Wenn er scheitert, heißt das noch lange nicht, dass die EU den Dialog mit der Türkei aufgeben soll. Ich hoffe, dass sich das Land in Fragen von Rechtsstaat und Gewaltenteilung wieder zu einer Demokratie entwickelt. Dann könnten die Beitrittsverhandlungen auch weitergeführt werden. (Christoph Reichmuth, 18.8.2016)