Das eigene Leben wird im World Wide Web preisgeben.

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Die wenigsten User wollen wissen, wie datensicher und verlässlich eine App fürs Life-Logging ist.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

Glow ist eine amerikanische App, die Frauen dabei hilft, schwanger zu werden. Neben den üblichen Daten wie Alter, Geschlecht, Gewicht und Größe trägt Frau auch die Temperatur und den Zeitpunkt ihrer Periode ein. Zusätzlich kann sie auch die Häufigkeit des Liebesspiels und die Sexstellung eintragen.

Die europäische Version nennt sich Clue. "Je öfter und intensiver man die App nutzt, umso präziser kann der lernende Algorithmus Vorhersagen zum eigenen Zyklus machen", erklärt Ida Tin, Gründerin des Start-ups mit Sitz in Berlin. Mehr als fünf Millionen Frauen nutzen Clue weltweit, mehr als vier Millionen Glow.

Gesundheits-Apps liegen im Trend. Allein in den beiden großen App-Stores stehen unter den Kategorien "Gesundheit & Fitness" und "Medizin" rund 100.000 Apps zur Verfügung. Sie berechnen Promille, Kalorien, fruchtbare Tage, erinnern an Medikamente, zeichnen Joggingstrecken auf, halten Blutdruck, Zuckerspiegel und Gewicht fest.

Große Erwartungen

Die Erwartungen in sie sind hoch: "Apps könnten dabei helfen, das Gesundheitssystem umzubauen: weg vom kurativen Ansatz, hin zur Prävention. Das wäre ein Riesenschritt, wenn man bedenkt, wie sehr Industrienationen mit lebensstilbedingten Volkskrankheiten wie Diabetes belastet sind", sagt Ursula Kramer von Sanawork Gesundheitskommunikation in Freiburg. Denn Apps erreichen Menschen überall, rund um die Uhr.

Dem sogenannten Self-Tracking, also dem Protokollieren von Körperdaten und Aktivitäten, kommt dabei eine besondere Rolle zu: "Was man messen kann, kann man auch steuern. Das ist für viele Nutzer sicher auch die Motivation, Health-Apps zu nutzen, und eine Erklärung für die große Beliebtheit", sagt Kramer. Wer gesünder isst und mehr Sport treibt, den belohnt eine sinkende Gewichtskurve. Und wer erkennt, dass der Blutdruck bei Stress durch die Decke schießt, der ändert womöglich seinen Lebensstil.

Das hilft gar nix

Allerdings ist die Wirksamkeit von Apps bisher kaum erforscht. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass sie sich positiv auf Gewichtskontrolle auswirken und Nutzer zu mehr Bewegung anregen. Auch die Wirksamkeit von Anti-Raucher-Apps und sogenannten Mental-Apps – digitale Selbsthilfeprogramme für psychische Erkrankungen wie Depression und Angststörungen – werden gerade in Langzeitstudien erforscht.

"Der Krankheitsverlauf einer Depression zum Beispiel lässt sich damit gut kontrollieren", sagt Peter Klimek vom Institut für Wissenschaft komplexer Systeme an der Med-Uni Wien. Indem Patienten täglich einen standardisierten Fragebogen per App ausfüllen, lässt sich erkennen, ob es dem Patienten besser oder schlechter geht, sodass der Arzt die Therapie entsprechend anpassen kann.

Die vom deutschen Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Studie "Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps – Charismha" kam im April allerdings zu dem Schluss, dass der Nutzen vieler Gesundheits-Apps begrenzt ist: Die Versprechungen sind meist groß, die Anwendung oft unzuverlässig.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine im Juni veröffentlichte Studie des American College of Obstetricians and Gynecologists, die die Genauigkeit von Zyklus-Apps unter die Lupe nahm. Clue gelangte mit 13 von 15 Punkten auf den ersten, Glow auf den zweiten Platz. Doch das Fazit der Wissenschafter ist insgesamt ernüchternd: Die meisten der 108 untersuchten Apps berechneten die fruchtbaren Tage nicht korrekt.

Knackpunkt Vertrauenswürdigkeit

Was aber, wenn die berechnete Insulindosis für einen Diabetiker zu hoch kalkuliert wird? Oder ein bösartiges Melanom als ungefährlich eingestuft wird? Und wenn die Nutzer ihrer App blind vertrauen? Gesundheits-Apps müssen verlässlich arbeiten und mit Bedacht ausgesucht werden. Doch genau das ist der Knackpunkt: Woher weiß man, welche App vertrauenswürdig ist?

"Bisher sind Verbraucher hier auf sich selbst gestellt. Empfehlungen von Ärzten sind eher die Ausnahme, denn auch sie kämpfen mit der großen Intransparenz", sagt Kramer. Die Nutzer orientieren sich an Rezensionen anderer und an Downloadzahlen. Unabhängige Prüfstellen oder Leitlinien, an denen sich Ärzte orientieren könnten, existieren nicht.

So werden die Stimmen derer, die Qualitätsstandards und Zertifizierungen fordern, lauter. Es wird auch darüber nachgedacht, Gesundheits-Apps als Medizinprodukt zuzulassen. Doch nicht jeder stimmt in den Ruf nach staatlicher Regulierung ein: "Auf einem globalisierten Marktplatz greifen nationale Regelungen nicht", sagt Klimek, der zudem befürchtet, dass durch strenge Auflagen Wettbewerbsnachteile entstehen könnten.

"Momentan herrscht Verunsicherung bei den Entwicklern. In Österreich fallen Gesundheits-Apps streng genommen unter das Medizinproduktgesetz. Aber keiner weiß, wo die Grenze liegt zwischen Medizinprodukt und Wellness-App", so Klimek.

Kostenlose Apps beliebter

Eine wissenschaftlich fundierte App zu entwickeln, kostet viel Geld – Nutzer ziehen kostenlose Apps aber häufig vor. Clue etwa finanziert sich momentan noch über ein Investorenpaket von zehn Millionen Dollar. Für die Zukunft ist eine kostenpflichtige Premiumversion angedacht.

Mit diesem Konzept finanziert sich etwa die App Noom, die Nutzern dabei hilft abzunehmen. Mehr als 30 Millionen Menschen haben Noom weltweit heruntergeladen und nutzen das Ernährungs- und Sporttagebuch zur Lebensstiländerung. Noom kann es sich leisten, auf Werbung zu verzichten – eine bei Apps weit verbreitete Form der Finanzierung. "Manche Apps verkaufen vielleicht auch Nutzerdaten an Dritte", sagt Kramer.

Gesundheits-Apps produzieren wertvolle Daten. Ein Teil der Nutzer blendet das Thema aus, manch einer nutzt aus Angst vor Datenklau solche Apps erst gar nicht. Dem Thema Datenschutz kommt sicherlich eine Schlüsselfunktion zu. Eine Studie der Universität Freiburg, an der auch Kramer beteiligt war, kommt zum Schluss, dass die meisten Apps sich hier intransparent verhalten: Nur 20 Prozent der Apps bieten eine Datenschutzerklärung an, nur ein Drittel der App-Anbieter gibt sich mit einem Impressum eindeutig zu erkennen.

"Wo und wie Daten gespeichert werden, wer die Daten in welchem Umfang und wofür nutzt, bleibt damit völlig im Dunkeln", schreibt Kramer in der Studie von 2015.

Krankheiten und Umwelt

Dass es auch anders funktioniert, zeigen Apps wie Clue oder Noom. Clue nutzt die Daten, die die App generiert, auch zu Forschungszwecken. So soll etwa untersucht werden, welche Pillen die Frauen einnehmen und welche Nebenwirkungen auftreten. Ob Frauen ihre Daten für Forschungszwecke freigeben wollen, entscheiden sie aber selbst. Tatsächlich birgt die Vielzahl an gesammelten Gesundheitsdaten große Chancen für die epidemiologische Forschung, die anhand der enormen Datensätze Schlüsse ziehen könnte, etwa über den Zusammenhang von Krankheiten und Umweltfaktoren.

"Durch die Einbeziehung von Daten aus der Lebenswirklichkeit der Probanden wären die Ergebnisse klinischer Studien viel aussagekräftiger", so Kramer – vorausgesetzt, die Daten sind valide. Das heißt, Schrittzähler, Pulsmesser und Co müssen zuverlässig und genau zählen. "Sowohl Google als auch Apple haben speziell für klinische Studien und für die Versorgungsforschung Lösungen entwickelt, ResearchKit oder Google StudyKit, um Daten aus Apps und Wearables zuverlässiger verarbeiten zu können. Die ersten Unternehmen arbeiten bereits damit", sagt Kramer.

Um Nutzern die Suchen nach seriösen Apps langfristig zu erleichtern, müsse man die Anbieter stärker in die Verantwortung nehmen, so Kramer. Das könnte funktionieren, indem Hersteller über qualitäts- und sicherheitsrelevante Aspekte von sich aus aufklären und Nutzer anhand eines bestimmten Symbols erkennen, in welchem Umfang der Anbieter dies tut.

"Wer umfassend aufklärt, hat dann einen Vorteil", so Kramer, die dieses Prinzip auch zur Bewertung von Gesundheits-Apps auf ihrer Informationsplattform HealthOn anwendet. Der Verbraucher freilich sollte immer kritisch hinsehen – und nicht ausschließlich nach kostenlosen Apps suchen. (Juliette Irmer, CURE, 28.11.2016)