Der Kompromiss, schrieb der bedeutende deutsche Soziologe Georg Simmel (1858-1918), sei "eine der größten Erfindungen der Menschheit", denn er bildet die Grundlage der Demokratie. Die Idee, keiner könnte seine Interessen ganz durchsetzen, jeder müsse Abstriche zugunsten des anderen machen, sorgt in der Tat für den gewaltfreien Ausgleich der Interessen und damit für ein annähernd gerechtes, friedliches Zusammenleben. Wie ich es vor fast zehn Jahren in meinem Österreich-Buch betont habe, war die Bereitschaft zum Kompromiss die Grundlage jener Sozialpartnerschaft, die nach meiner Meinung das österreichische Wirtschaftswunder nach 1945 überhaupt erst möglich machte.

Der langjährige Generalsekretär der ÖVP, Hermann Withalm, wegen seiner Härte von den Gegnern gefürchtet und von den Anhängern bejubelt, hatte im Parlament als Klubobmann oft die schärfsten Wortgefechte mit seinem Gegenüber, dem SPÖ-Klubobmann Bruno Pittermann geführt. Als dieser schwerkrank war, hat ihn Withalm jede Woche besucht. Es war eine zutiefst menschliche Geste, die erst viel später bekannt wurde. "Was wir alle miteinander am meisten brauchen, ist Toleranz, der Versuch, den anderen zu verstehen, das Miteinander-Reden" hieß es in der letzten Botschaft dieses offenherzigen Politikers, den ich seinerzeit als Financial Times-Korrespondent mehrmals getroffen hatte.

Der sozialdemokratische Vordenker Egon Matzner bezeichnete die Sozialpartnerschaft als die zweifellos wichtigste institutionelle Innovation im Nachkriegsösterreich. Kreisky nannte die Interessenkonflikte zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden einen "sublimierten Klassenkampf" am grünen Tisch. Die Sozialpartner haben den sozialen Frieden und die gesellschaftliche Stabilität als Grundvoraussetzung des Wirtschaftswachstums, der Wohlstandssteigerung und des Wohlfahrtsstaates gesichert.

Auch die zweiten Wahlgänge bei den Präsidentschaften Rudolf Kirchschlägers, Thomas Klestils und Heinz Fischers haben die Bedeutung des Sinnes für Maß in der österreichischen Politik gezeigt. Warum ist es wichtig an scheinbare Banalitäten zu erinnern? Die heimtückischen Terroranschläge, die aus den Fugen geratene Flüchtlingskrise und die heuchlerische Debatte über den Türkei-Kurs der EU haben Unsicherheit, Angst und Verbitterung nicht nur in Österreich, sondern in fast allen EU-Mitgliedsstaaten ausgelöst. Damit arbeiten überall die nationalistischen Rechts- und Linkspopulisten. Die autoritäre, nationalistische Versuchung bedeutet – nach historischen Erfahrungen – die größte Gefahr für Freiheit und Demokratie.

Man muss auch daran erinnern, dass am Anfang des Weges zu einer politischen Katastrophe durchaus eine demokratische Wahl stehen kann. Auch aus Österreichs Geschichte lässt sich lernen, dass, wer sich auf das scheinbar attraktive Spiel der National-Autoritären einlässt, nur verlieren kann. Ohne liberale Demokratie, die Verteidigung der Freiheit, eine Kultur der Toleranz und des Respekts kann es auch keine Sicherheit geben. Sechs Wochen vor der möglicherweise schicksalhaften Persönlichkeitswahl in Österreich sollten die Politiker rechtzeitig Farbe bekennen. (Paul Lendvai, 16.8.2016)