Manchmal ist das Wichtigste, was passiert, was nicht passiert – oder, in Anlehnung an Sherlock Holmes, der Hund, der in der Nacht nicht anschlägt. Das Ausbleiben einer Reaktion auf die unterlassene Durchsetzung der Bedingungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gegenüber Spanien und Portugal durch die Europäische Kommission ist ein solcher Moment.

Laut den Regeln des Stabilitätspaktes hätte die Kommission gegenüber Spanien und Portugal die Verhängung eines Bußgeldes vorschlagen müssen, weil diese Länder die Zielvorgaben für ihre Haushaltsdefizite deutlich überschritten haben. Dieses Bußgeld wäre weitgehend symbolischer Art gewesen, doch die Kommission hat anscheinend entschieden, dass diese Symbolik nicht lohnt.

Und es war nicht nur die Kommission, die sich entschloss, nicht zu bellen; auch das übrige Europa blieb still. Nicht einmal Deutschland, das in der EU in Bezug auf die Sparpolitik den wichtigsten Wachhund gibt, gab Laut. Tatsächlich soll Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble auf mehrere Kommissionsmitglieder eingewirkt haben, kein Bußgeld gegen Spanien oder Portugal zu verhängen. Die deutsche Finanzpresse, die die Europäische Kommission oft wegen ihrer angeblichen Laxheit kritisiert, hat die Entscheidung kaum zur Kenntnis genommen.

Wie ist dieses Schweigen zu erklären? Es gibt einen Präzedenzfall für eine derartige haushaltspolitische Nachsicht in der EU. Im Jahr 2003 wiesen alle drei großen Mitgliedsländer der Eurozone (Frankreich, Deutschland und Italien) Defizite von über drei Prozent des BIPs – die im Stabilitätspakt festgelegte Obergrenze – auf. Zum Jahresende wurde deutlich, dass Frankreich und Deutschland (wo damals Rekordarbeitslosigkeit herrschte) ihren Verpflichtungen zum Defizitabbau nicht nachkommen würden.

Doch anders als heute bellte die Kommission. Sie schlug vor, das sogenannte Defizitverfahren des Stabilitätspaktes einzuleiten. Der Vorschlag sah keine Bußgelder vor, sondern konzentrierte sich vielmehr auf die Phase, bevor Bußgelder in Betracht zu ziehen gewesen wären. Trotzdem widersetzten sich die EU-Finanzminister vehement, und zwar überwiegend aus politischen Gründen.

Der Konflikt machte Schlagzeilen in ganz Europa, insbesondere in Deutschland, wo Presse und politische Opposition die Regierung Schröder ob ihres Versäumnisses, Finanzdisziplin zu wahren, heftig kritisierten. Es kam zu hitzigen Debatten über die Haushaltsregeln und die Rolle der Kommission bei deren Durchsetzung. Kurz gefasst: Alle gaben Laut.

Trotz des Widerstandes entschloss sich die Kommission, das Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich voranzutreiben. Mit dieser Entscheidung sandte sie ein klares Signal aus, dass sie ihre Verantwortung als Hüterin der EU-Verträge ernst nahm – tatsächlich so ernst, dass sie Regeln durchsetzen würde, denen sie nicht notwendigerweise zustimmte. (Tatsächlich hatte der damalige Kommissionspräsident Romano Prodi die mangelnde Flexibilität des Stabilitätspaktes bereits harsch kritisiert.) Letztlich setzten sich jedoch die politischen Interessen durch, und die EU-Finanzminister stimmten dafür, das Verfahren auszusetzen.

Die Minister leiteten eine Reform des Paktes ein und verlagerten den Fokus von Gesamtdefiziten auf eine Messgröße für die Haushaltslage, die den Zustand der Volkswirtschaft mit berücksichtigte. Die Kommission akzeptierte dies und hat seitdem mehrere Veränderungen vorgenommen, wobei sie jedes Mal stolz erklärte, dass der Stabilitätspakt nun "flexibler" und "intelligenter" sei.

Heute halten Spanien und Portugal nicht einmal die neuen, flexiblen Regeln ein. Doch die von Jean-Claude Juncker geführte Kommission war sich uneinig, ob man diese Regeln durchsetzen solle; einige Kommissionsmitglieder wollten lieber Milde walten lassen. Schäubles Intervention scheint die Angelegenheit entschieden zu haben. Wenn es darum geht, zuzulassen, dass politische Überlegungen die Durchsetzung der Regeln beeinflussen, hat sich eindeutig nicht viel geändert.

Dabei hatte die Kommission diesmal mehr Macht, um den Widerstand der Finanzminister zu überwinden. Nach der Wirtschaftskrise von 2008 hat Europa das Verfahren der "umgekehrten qualifizierten Mehrheit" eingeführt, gemäß welchem ein Vorschlag der Kommission auf Verhängung eines Bußgeldes Bestand hat, sofern die EU-Finanzminister nicht mit Zweidrittelmehrheit dagegen stimmen. Und dies genau ist der wesentliche Unterschied zwischen heute und 2003: Das Bekenntnis der Kommission zur Durchsetzung der Regeln des Stabilitätspaktes hat nachgelassen.

Das relative Schweigen von Öffentlichkeit und Medien verdeutlicht die Lage. Die Haushaltsregeln genießen nicht mehr die frühere Unterstützung. Möglicherweise sind insbesondere Deutschland und Frankreich zu sehr mit Sicherheitsfragen beschäftigt. Der anstehende Brexit bindet ebenfalls Aufmerksamkeit. Und die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in vielen Ländern mag als ein dringenderes wirtschaftliches Problem erscheinen denn der Defizitabbau.

Doch die fehlende Unterstützung für die europäischen Haushaltsregeln ist mit ernsten Risiken verbunden. Wenn die konkretesten Elemente des Regulierungsrahmens der Eurozone nicht strikt zur Anwendung kommen, was zwingt dann die Mitgliedsstaaten, Reformen einzuleiten und ihr Schuldenniveau zu stabilisieren? Vage Ermahnungen werden nicht funktionieren. Es scheint, dass die Krise und die unhaltbar hohen Risikoaufschläge für hochverschuldete Regierungen, die darauf folgten, bereits wieder in Vergessenheit geraten sind.

Offiziell arbeitet die Kommission noch immer an der Realisierung eines Entwurfs für eine "echte" Wirtschafts- und Währungsunion. Doch im Gefolge der Kommissionsentscheidung, den Stabilitätspakt nicht durchzusetzen, ist dieses Bemühen bedeutungslos geworden. Es ist nun klarer denn je, dass die EU-Mitgliedsstaaten innenpolitischen Zwängen Vorrang vor gemeinsamen Regeln und dem europäischen Gemeinwohl einräumen. (Daniel Gros, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 11.8.2016)