Christian Kern bei der Präsidentenwahl: Seine noch unverbrauchte Popularität könnte den Kanzler dazu verleiten, sich selbst bald den Wählern zu stellen.

APA / Andy Wenzel

Wien – Das Bonmot gibt Anlass für Spekulationen. Alexander Wrabetz sei nur für ein Jahr zum ORF-Chef wiederbestellt worden, hat FPÖ-Stiftungsrat Norbert Steger behauptet, denn dann würden Neuwahlen die Machtverhältnisse im Land und damit auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf den Kopf stellen. Eine bloße Provokation? Oder steckt ein Plan dahinter? "So wie sich die FPÖ von der ÖVP am Nasenring über den Küniglberg ziehen lassen hat", sagt SPÖ-Klubchef Andreas Schieder, "würde es mich nicht wundern, wenn es bereits eine schwarz-blaue Absprache gibt".

Derartige Mutmaßungen machen in koalitionären Kreisen immer wieder die Runde. Angesetzt ist die nächste Nationalratswahl erst für Herbst 2018, doch misstrauische Sozialdemokraten und ÖVPler haben einander im Verdacht, den vorzeitigen Absprung zu suchen. Was spricht tatsächlich für solch ein Wagnis?

Unverbrauchter Parteichef

Auf roter Seite ist das der immer noch recht neue und damit unverbrauchte Parteichef. Was sein persönliches Standing betrifft, weisen Umfragen Christian Kern so gute Werte aus, wie sie seit der Jahrtausendwende kein Kanzler mehr hatte. Statt sich noch zwei Jahre lang im Koalitionshickhack zu verschleißen, so das Denkmodell, sei es klüger, die Kraftprobe in einer vorzeitigen Wahl zu riskieren. Teile der ÖVP legten es – von der Mindestsicherung bis zur Mietrechtsreform – ja geradezu darauf an, Kern gegen die Wand rennen zu lassen, klagen Sozialdemokraten. Manche sagen: Ewig werde die SPÖ das nicht mitmachen.

Allerdings gibt es auch im schwarzen Lager einen populären Hoffnungsträger: Außenminister Sebastian Kurz könnte Reinhold Mitterlehner an der Parteispitze ablösen und seinerseits die Flucht nach vorn antreten – ein Szenario, das keinesfalls nur Sozialdemokraten, sondern auch ÖVPler kolportieren. Andere in der Partei halten dies hingegen für ein Hirngespinst. Kurz habe keine Eile, er büße auch in der aktuellen Konstellation nichts an Reputation ein – siehe die jüngste Türkei-Debatte. Der bald 30-jährige Ressortchef sei gut beraten abzuwarten, als sich in ein Abenteuer zu stürzen, sagt ein hoher ÖVP-Politiker: "Sehen Sie sich unsere Umfragen an!"

Seelenheil retten

Peter Hajek tut dies von Berufs wegen regelmäßig – und liest für Rot und Schwarz wenig Ermutigendes heraus. Man könne die Präzision der Umfragen bezweifeln, sagt der Meinungsforscher, doch dass die Freiheitlichen "mit Respektabstand" stabile Nummer eins seien, lasse sich kaum vom Tisch wischen: Die Koalitionsparteien müssten fürchten, überhaupt eine Regierungsmehrheit von 50 Prozent zu schaffen. Kerns Popularität ziehe die SPÖ bisher nicht mit, analysiert Hajek, und wenn sich die ÖVP als Juniorpartner mit einer übermächtigen FPÖ einlassen wolle, "sollte sie Kerzerl im Stephansdom anzünden, um ihr Seelenheil zu retten".

Damit eine vorzeitige Neuwahl nicht in einer rot-schwarzen Niederlage mündet, müssten sich die Rahmenbedingungen jäh ändern, sagt der Demoskop: Das Wirtschaftswachstum müsste anziehen, die Flüchtlingsdebatte einschlafen, der Terror abebben. Bei der derzeitigen Stimmungs- und Themenlage brauchten die Freiheitlichen nicht viel mehr tun, als die Wähler ständig auf eines hinzuweisen: "Wir haben es euch ja gleich gesagt."

Schlecht aufgestellt

Blendend aufgestellt sind die ehemaligen Großparteien obendrein nicht. Die sozialdemokratischen Landesparteien im Westen befinden sich im Siechtum, die mächtige Wiener Partei ist in der Causa prima, der Flüchtlingsfrage, gespalten. In der ÖVP wiederum ist der Einfluss der Länder so stark, dass die Bundespartei in der Regierung – wie etwa bei der Mindestsicherung – oft keine einheitliche Linie zusammenbringt.

Rational spricht also vieles dagegen, dass SPÖ oder ÖVP Neuwahlen im nächsten Jahr oder gar noch heuer ansteuern. Doch Politik werde auch von Emotionen getrieben, sagt Hajek, und da gilt für beide Parteien: Viele haben den ewigen Partner satt und wollen im Herzen eine andere Koalition.

Einer, der als Zündler verrufen ist, beantwortet die Neuwahlfrage allerdings betont großkoalitionär. Seit dem Wechsel in der SPÖ gehe in der Standort-, Sicherheits- und Bildungspolitik mehr weiter, sagt ÖVP-Klubchef Reinhold Lopatka: "Niemand, der ernst zu nehmen ist, denkt im Entferntesten an Neuwahl." (Gerald John, 11.8.2016)