"Natten" ist ein siebenstündiges Experiment, das choreografisch von den Fährnissen des Tages und der Folter des Sozialen erzählt.

Foto: Anne Van Aerschot

Wien – Es ist leichter, sich mit der Finsternis zurechtzufinden als mit dem Licht, und Glück erscheint oft abgründiger als Unglück. Tragödien, Krimis, Horrorfilme, düstere Töne und Gewalt-Games ziehen Publikum an wie das Licht die Motten. Das sagt etwas aus, das zwar in vieler Munde ist, aber trotzdem selten direkt angesprochen wird. Auch der schwedische Choreograf Mårten Spångberg (48) hat seine Probleme damit.

Er ist der wohl bunteste Hund der zeitgenössischen Tanzszene in Europa. Der Schwede war Tanzkritiker, Autor, Dramaturg, Pädagoge und Kurator, dabei meist erfolgreich und immer am Puls der Zeit. Eigene Stücke zeigt der begnadete Netzwerker seit Ende der 1990er-Jahre. Heute konzentriert er sich vor allem darauf.

Bei Impulstanz hat Spångberg jetzt nach seinem mit jungen Tanzstudenten erarbeiteten Stück Dawn zwei weitere Werke gezeigt: La Substance, but in English im Kasino am Schwarzenbergplatz und Natten in der Mumok-Hofstallung.

Verblüffend direkt entblättert sich La Substance als künstlerische Flachheit: eine popmusikgetriebene Kinderparty in Slow-Motion-Tanz mit bunt geschminkten und verkleideten Witzfiguren, einem überdimensionalen Ausmalbild und einem schillernden Backdrop aus zwischen gold-silbrig schimmernde Rettungsfolien montierten Werbungen für Modefirmen. Die Plattitüde hat sichtlich System. Dieses geht jedoch – was sehenden Auges in Kauf genommen wird – in die Hose. Das riecht dann nach Tragödie, denn dem Choreografen und seinen elf Tänzerinnen und Tänzern geht es angeblich um das Zelebrieren eines schönen, sinnlichen Zusammenseins, um friedvolles Genießen und Entspannung für das Publikum.

Doch gerade diese überpositive Attitüde wendet das Ganze in sein Gegenteil. Denn das neckische Ausmalbild, das vom Publikum angefärbelt werden soll, wirkt wie ein Disziplinierungsexerzitium. Die nichtkonterkarierten Werbeflächen bleiben tatsächlich solche. Die Aufmachung der Performer macht einen gezwungenen Eindruck, und das Musikprogramm beschränkt sich großteils auf die übliche Emotionsmanipulation.

Das überwiegend junge Publikum spürt's, aber es mag die schicke Geste und lässt sich auf sie ein: Die Jungschar will wenigstens ein Stück lang in der trügerischen Illusion baden, die Welt könnte unschuldig sein. Das erzeugt eine Stimmung wie in den 1950ern bei Nachkriegsmusical und Heimatfilm im Übergang zum Kalten Krieg. Unheimlich daran: Das entspricht einem wesentlichen Teil des Zeitgeists von heute.

Doch halt! Schon in Natten (schwedisch: "Nacht"), dessen geplante zweite Vorstellung bei Impulstanz am 11. 8. leider entfällt, wandelt Spångberg diese Nettigkeit zu einer siebenstündigen Grauzone um. Wie schon bei Dawn gibt es auch hier die Projektion eines Films – offenbar eine Verfremdung von Ausschnitten der Ten Skies (2004) von James Benning, was leider aus den Credits im Programm nicht ersichtlich wird -, diesmal in Schwarz-Weiß. Und wie sowohl bei Dawn als auch in La Substance dominiert auch hier die Langsamkeit.

Permanentes Halbdunkel

Natten dauert sieben Stunden. Der Sound: Regen, Donner und gezogene, meist instrumentale, rhythmische Musik. Unbequem sitzt das Publikum auf dem Boden rund um die Performance. Immerhin gibt es Decken. Permanentes Halbdunkel, dunstig-schwüle Raumatmosphäre. Die Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich in langen Soli, Duetten und Gruppen. Oder sie liegen da und stöhnen wie beim Sex. Eine Frau trägt ein blutübergossenes Minikleid. Diese Nacht ist keine leichte, sondern ein Experiment im Durchmachen.

Hier hat sich die Überpositivität von La Substance ins Negative verkehrt, und im Rückblick lässt sich das Nachtdunkel wieder auf diese Kinderparty übertragen. So infiltriert das tiefe Natten den flachen Antipoden La Substance und gibt diesem rückwirkend ein abgründiges Volumen: Schließlich schützt die Nacht auch vor den Fährnissen des Tages und den Foltern des Sozialen. Natten erscheint als Hades. Der Tag – die Party – ist schlimmer. Ein maskierter Tartaros. (Helmut Ploebst, 10.8.2016)