Antiterroreinsatz in der französischen Gemeinde Saint-Étienne-du-Rouvray Ende Juli, nachdem Terroristen einen Priester in einer Kirche getötet haben.

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Nur wenige Wochen vor den verheerenden Anschlägen in Paris im vergangenen November hat der französische Philosoph Philippe-Joseph Salazar sein Buch "Paroles armées: Comprendre et combattre la propagande terroriste" veröffentlicht. Darin analysiert er die Propagandatexte des "Islamischen Staats" (IS) und kommt zu folgender Diagnose: Die Ideologie des IS ist mittlerweile so professionell verbreitet, mächtig und global, dass wir in den nächsten 50 bis 100 Jahren mit dem "Islamischen Staat" leben müssen. Deshalb sollten wir uns rhetorisch mit dem "Kalifat", wie er den IS nennt, auf Augenhöhe begeben und nicht zuletzt in den "Krieg der Worte" eintreten. Das Buch erscheint jetzt auf Deutsch.

STANDARD: Sie verbrachten zwei Jahre damit, IS-Propaganda zu lesen und zu analysieren. Warum?

Philippe-Joseph Salazar: Als Philosoph und Autor habe ich mich bisher mit politischer Versöhnung und der politischen und religiösen Rhetorik befasst. Hier war ich plötzlich mit dem totalen Gegenteil konfrontiert: mit dem "Islamischen Staat". Wie geht man mit einer Ideologie um, die vollkommen unversöhnlich ist? Das hat mich interessiert. Im Juli 2014 hielt Abu Bakr al-Baghdadi, der "Kalif", seine IS-Gründungsrede. Alle Kommentatoren der maßgeblichen westlichen Medien machten sich darüber lustig. Ich ließ mir die Rede übersetzen und erkannte: Das ist eine unglaublich bemerkenswerte, gut strukturierte und gut präsentierte, brillante Rede in bester islamischer Tradition: ein politisches und rhetorisches Event. Nichts zum Lachen, diesen "Islamischen Staat" muss man ernst nehmen. Da fing ich an, alles vom IS zu sammeln, was im Internet zu finden war.

STANDARD: In welcher Sprache?

Salazar: Hauptsächlich fand ich zuerst Material in Englisch, denn das ist die Sprache des Internets. Alle Videos waren beispielsweise englisch untertitelt. Die Propagandamaschinerie des IS ist äußerst professionell. Später fand ich dann auch Material auf Deutsch oder Französisch, denn in diesen beiden Jahren wurde die Maschinerie immer internationaler. Derzeit publiziert der IS in 13 Sprachen. Die zuletzt eingeführte Sprache ist Portugiesisch, weil der IS nun auch Lateinamerika den Jihad erklärt hat. Ich habe auch islamische Texte gelesen und historische Ereignisse studiert, auf die die IS-Propaganda immer verweist, um zu verstehen, wie diese Texte und Argumente für die Zwecke des IS benutzt werden.

STANDARD: Welche Menschen sind in Europa für diese Propaganda empfänglich?

Salazar: Es ist sehr interessant, dass die einigen tausend jungen Männer und Frauen aus dem Westen, die sich dem IS im Irak und in Syrien angeschlossen haben, vorher nicht gläubig waren oder sogar erst zum Islam konvertiert oder wieder konvertiert sind. Es sind hauptsächlich gebildete Jugendliche aus der Mittelklasse. Wer vorher schon Muslim war, hat kein Interesse an dieser Art von gewalttätigem Islam. Die Argumentation dieser "Westerners", gestützt auf die sehr geschickte Propaganda des Kalifats, ist folgende: Ihr, der Westen, habt uns, Muslime, damals aus Europa vertrieben. Wir wollen dieses Unrecht mit Hilfe Gottes sühnen. Eine weitere Schiene in der Propaganda hat die weniger Gebildeten zum Ziel. Diejenigen, die das Gefühl haben, dass ihre Eltern die Kapitalismusverlierer sind, nicht von den westlichen Werten profitieren und nach der Immigration um ihre Identität betrogen wurden.

STANDARD: Eine Ihrer zentralen Botschaften lautet: "Wenn man den Krieg gewinnen will, muss man zuerst den Krieg der Worte gewinnen." Ist das möglich? Und wie?

Salazar: Ja, wie kann man eine so mächtige und globale Ideologie wie diese – mächtig vor allem deshalb, weil sie erstmals die Mittel des Internets professionell für ihre Zwecke einsetzt – bekämpfen? Um die Macht des Internets zu nutzen, muss man das klar umrissene Vokabular haben. Ein bemerkenswertes Beispiel: Es existiert ein dreiseitiger Text des IS, der getitelt ist mit den Worten "Why we hate you". Und in sechs sehr klar strukturierten Absätzen wird mit präzisen und deutlichen Worten erklärt, warum sie uns hassen. Jede betroffene Regierung, ja, sogar die Nato müsste bereits an einer individuellen verbalen Gegenstrategie arbeiten, Tag und Nacht.

Was tut der Westen? Wir haben nicht einmal einen einheitlichen Namen für den "Islamischen Staat", geschweige denn so etwas wie eine Gegenrede, eine wirksame Botschaft, die dem strategisch entgegenarbeitet. IS, Isis, Daesh, Isil. Man muss seinen Feind klar benennen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Regierungen das bewusst vermeiden. Ich schlage vor, "Das Kalifat" zu sagen (Kalif in seiner Bedeutung als "Stellvertreter Gottes", Anm.). Denn dieser Ausdruck macht erst die Dimension deutlich, mit der wir es hier zu tun haben. Das Kalifat ist nämlich nicht einfach eine Terrorgruppe, sondern wir haben es mit einer Führung zu tun, die glaubt, dass sie im Islam die gleiche Position einnimmt wie der Papst im Christentum.

STANDARD: Wie bewerten Sie die Berichterstattung der Medien?

Salazar: Was ich feststelle, ist eine Art Verweigerungshaltung. Die Terroristen werden nicht als solche bezeichnet, sondern als Kleinkriminelle, als schlecht integriert, als psychisch krank. Das mag alles stimmen, aber ich habe den Eindruck, dass wir uns einfach davor fürchten, einen Terroranschlag schlicht auch einen Terroranschlag zu nennen. Erst wenn es viele Todesopfer gibt, berichtet man klar: Terror. Das Kalifat legt aber auch von der kleinsten Tat eine Propaganda-Dokumentation an und sendet damit ein Signal aus: Jede auch noch so geringe Tat kann dazu beitragen, das Kalifat zu verteidigen.

STANDARD: Die Medienschaffenden diskutieren genau darüber, und es gibt die Auffassung, man dürfe den Terroristen keine unnötig große mediale Plattform bieten.

Salazar: Wir müssen darüber informieren, was passiert. Nicht mehr und nicht weniger. Und wenn ein Mensch geschlachtet wird wie ein Tier, dann müssen wir auch darüber berichten. Das ist die Realität des Krieges, den das Kalifat gegen die westlichen Werte führt. Ich bin auch dafür, dass die Dokumente des Kalifats in den Schulen als Lehrmaterial für die höheren Klassen verwendet werden, zum Beispiel im Fach Philosophie. Man sollte sich ansehen, wie diese Leute ihre unglaubliche Brutalität argumentieren. Man muss das verstehen, um eine Gegenposition einnehmen zu können.

STANDARD: Apropos deutliche Worte: Sie schlagen in Ihrem Buch auch vor, die Terroristen nach dem strafrechtlichen Tatbestand des Verrats anzuklagen.

Salazar: Ja, das sind schließlich keine normalen Kriminellen, sie werden aber teilweise wie solche behandelt. Der Rechtsstaat kann ja auf die existierenden Gesetze zurückgreifen. Der Tatbestand Verrat erscheint mir geeignet.

STANDARD: Sie erinnern vor allem die französischen Republikaner daran, dass das ursprüngliche und vollständige Motto der französischen Republik "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod" war. Wie meinen Sie das?

Salazar: Wir haben in Frankreich ein starkes republikanisches Fundament. Wir tun aber nichts für dessen Erhaltung. Alles, was wir nach einem Terroranschlag tun, ist weinen, uns umarmen, Kerzen anzünden, beteuern, dass wir uns nicht fürchten, und auf den nächsten Anschlag warten. Wir agieren passiv, und wir weichen zurück. Wir müssen aber reagieren, wir müssen wachsam sein. Nach einem Anschlag hört man immer wieder über die Täter: "Er war so nett", "Er ist gar nie aufgefallen". Ich sage nicht, dass wir mit den Fingern aufeinander zeigen sollen. Aber wir müssen die Zeichen richtig lesen. Die Zeiten haben sich geändert. Wir leben in Frankreich nicht mehr im Frieden, wie wir es gewohnt waren. 7.000 ausgebildete Jihadisten sind laut Geheimdienstinformationen in Westeuropa. Wir sind quasi wieder im Krieg. Aber das Internet können wir nicht bombardieren.

STANDARD: Das klingt alles nicht sehr ermutigend. Geben Sie in Ihrem Buch auch eine Perspektive der Hoffnung?

Salazar: Die Situation für mich ist sehr klar. In den nächsten 50 bis 100 Jahren müssen wir mit dem "Islamischen Staat" leben. Ob wir das mögen oder nicht, wir müssen es akzeptieren und die Gefahr so gut wie möglich eindämmen. Und wir müssen mit dem Kalifat auch in Dialog treten. Wie es die USA mit dem Iran getan haben, wie sie es mit den Taliban getan haben. Es gibt keinen absoluten Feind. Als Philosoph bin ich davon überzeugt. Und mit dem Feind zu reden heißt nicht, ihn nicht besiegen zu können. (Manuela Honsig-Erlenburg, 29.8.2016)