Es ist anzunehmen, dass Johann Wolfgang von Goethe mit dem Satz "Sieh, das Gute liegt so nah" nicht von Wildkräutern gesprochen hat. Und trotzdem passt das Sprichwort wie die Faust aufs Auge – um im Redewendungsmodus zu bleiben. Wir sind nahezu überall von wildwachsenden Pflanzen umgeben, gehen auf ihnen, mähen sie um oder – am allerschlimmsten – vernichten sie mit Chemikalien. Dabei ist es genau dieses vermeintliche Unkraut, das so herrlich schmeckt und in einem Gericht verarbeitet für eine positive Verwirrung der Geschmacksnerven sorgt. Nichts ist so unberührt von Menschenhand und so natürlich im Geschmack.

Nur wenn die Pflanze unbehandelt ist, wird sie ihren typischen Geschmack entwickeln, der als Abwehr gegen Fressfeinde gebildet wird oder sie Dürreperioden überstehen lässt. Die Aromenvielfalt scheint dabei schier unendlich und kann von bitter und herb über sauer oder süß bis hin zu extrem scharf reichen. Herausfinden, wie welches Kraut schmeckt, kann man nur, indem man es probiert. Auch wenn man sich bei den ersten Verkostungsexperimenten eher wie ein grasendes Rind vorkommt, ist es sinnvoll, so viel wie möglich zu probieren.

Restaurants und Bars finden immer mehr Gefallen an wildwachsenden Kräutern. Die Pflanzen sehen nicht nur schön aus, sie schmecken auch.
Foto: Lukas Friesenbichler

Falsch machen könne man dabei nicht viel, sagt Barkeeper und Kräuterexperte Hubert Peter. "Es gibt in Österreich kaum Pflanzen, die man nicht essen kann. Ich habe auch schon Maiglöckchen probiert und bin auch nicht gestorben. (Bitte nicht nachmachen! Anm. d. Redaktion) Ich möchte vorher immer alles unbeeinflusst kosten. So kann ich es besser bewerten. Wenn ich schon vorher weiß, dass es sich beispielsweise um eine Minzsorte handelt, bin ich nicht mehr unvoreingenommen", sagt Peter, der in Wien-Neubau eine Bar betreibt, in der es ausschließlich Cocktails aus selbst hergestellten Essenzen und Auszügen gibt. Die frischen Kräuter dafür holt Peter einerseits von der Wiener Gärtnerei Bach, und andererseits sammelt er sie selbst. Wie zum Beispiel jene für seinen selbst angesetzten Wermut.

Kräuterhauptstadt

Gerade in Wien ist die Vielfalt an wildwachsenden Kräutern und Früchten enorm. Unzählige Kräuter und Früchte wachsen in der Bundeshauptstadt auf öffentlichen Plätzen. "Allein auf der Donauinsel wachsen so viele tolle Dinge, die meistens abfallen und verderben. Ich habe zum Beispiel dieses Jahr 40 Liter Likör aus grüner Nuss gemacht, die ich auf der Donauinsel gesammelt habe.

Es gibt dort auch unzählige Kräuter wie Schafgarbe, Rotklee, Holunderblüten und -beeren oder Spitzwegerich. In der Innenstadt findet man aber ebenso Kräuter. Vor kurzem bin ich durch die Stadt spaziert und habe an einer Straßenlaterne Portulak gesehen. Natürlich kann man den nicht essen, weil er direkt an der Straße wächst, aber es zeigt, wie fruchtbar der Boden ist", schwärmt Peter.

Bei Wildkräutern denken die meisten Menschen nicht sofort an Parks in der Stadt oder Grünflächen neben Wohnhäusern. Schließlich ist doch auf dem Land alles viel natürlicher und besser. Das verklärte Bild der Landidylle mit ihren saftigen Wiesen und unberührten Wäldern existiert aber oft leider nur in der Fantasie. Natürlich trifft man in ländlichen Gegenden auf ein reiches Angebot an Kräutern und Früchten. In der Nähe von landwirtschaftlichen Betrieben ist jedoch Vorsicht geboten.

Pestizidbelastung neben Feldern

"Es gibt auf dem Land viele Wiesen, die neben Feldern liegen, die wiederum mit Pestiziden gespritzt oder gedüngt werden. In der Stadt ist es wesentlich einfacher, Kräuter zu sammeln", sagt Getrude Henzl. Die gelernte Juristin beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit Wildkräutern und hat dafür sogar ihren Job an den Nagel gehängt. In ihrem kleinen Geschäft nahe dem Wiener Naschmarkt verarbeitet sie alles, was sie bei ihren regelmäßigen Streifzügen durch die Wiener Wälder, Parks und Wiesen findet. Gerade kocht sie Kriecherln ein, die sie auf dem Areal des Krankenhauses Baumgartner Höhe gesammelt hat, um daraus ein herrlich süßes Gelee herzustellen. Und weil sie in der Früh einen ganzen Sack voll Rosmarin von einer Kundin bekommen hat, wird dieser gleich mitverarbeitet.

Die Mengen, die Henzl verkocht, sind gering. Die Gewinnspanne nicht der Rede wert, bedenkt man, was für ein Aufwand dahintersteckt, Früchte und Kräuter selbst zu sammeln, auszusortieren, zu verarbeiten und schließlich in sehr geringer Stückzahl zu verkaufen. Viele Kunden, darunter auch einige Küchenchefs, wissen die Qualität der Kräuter aber zu schätzen. Schließlich sind Wildkräuter mittlerweile auch in der gehobenen Gastronomie ein fixer Bestandteil. Einer der wichtigsten Wildkräuter-Pioniere war der kürzlich verstorbene Spitzenkoch Meinrad Neunkirchner. Mit seinen Rezepten zeigte er, welche Schätze vor unserer Haustür wachsen und was wir mit ihnen machen können. Mittlerweile sind viele Koch-Kollegen auf den Zug aufgesprungen.

Die Stadt als Lebensraum für Wildkräuter: Lukas Friesenbichler fotografierte frisch gesammelte Kräuter von Gertrude Henzl zwischen Pflastersteinen.
Foto: Lukas Friesenbichler

Wirklich neu ist das freilich alles nicht – manche Dinge müssen aber offenbar erst verschwinden, um später wiederentdeckt zu werden. "Früher musste man das essen, was da war. Es gab die Glashauskultur und auch die Importe noch nicht so wie heute. Es ist viel an Wissen und Tradition verlorengegangen", sagt Henzl. Die Zahl derer, die sich wieder intensiv mit Wildkräutern beschäftigen, steigt aber. Kurse und Workshops sind bereits Monate im Voraus ausgebucht.

Für Neulinge sei so ein Kurs ratsam, weiß Susanne Prochaska von der Wiener Kräuterakademie. "Wir wollen traditionelles Kräuterwissen praxisnah vermitteln. Es macht wenig Sinn, komplizierte Namen zu lernen, wenn man nicht weiß, wie die Pflanze in der Realität aussieht und was man mir ihr machen kann. Bei Giersch zum Beispiel muss man den Stängel fühlen, um zu beurteilen, ob es sich tatsächlich um das vermeintliche Unkraut mit seinem dreikantigen Stängel handelt. ", sagt Prochaska, die mit ihrer Kollegin Sylvia Junger regelmäßig Kräuterwanderungen und -kurse anbietet.

Vier Fixstarter

"Die wichtigsten Kräuter für uns sind Brennnessel, Löwenzahn, Schafgarbe und Spitzwegerich. Mit diesen vier Pflanzen kann man sich das ganze Jahr über versorgen", sagt Junger. Dass man dafür nicht zum Gärtner oder sogar in den Supermarkt gehen muss, mag viele Städter überraschen. "Die Regale sind vollgestopft, und die Kunden kaufen alles, ohne irgendetwas zu hinterfragen. Es ist verrückt, dass Kräuter beispielsweise aus Israel kommen. Da sind auch die Gastronomen gefragt. Ich mache in meiner Bar keinen Caipirinha, solange ich keine leistbaren Limetten in Bioqualität hier bekomme", erzählt Hubert Peter, der regelmäßig seine Cocktailkarte überarbeitet. Einen Caipirinha würde man in seiner Bar aber ohnehin nicht bestellen, sieht man die spannenden Eigenkreationen in der Karte.

Doch wo soll man in Wien als Neo-Kräutersammler nun sein Glück versuchen? "Gut sind Plätze, die oft gemäht werden und wo wenige Hunde unterwegs sind. Wildkräuter werden schnell bitter und zäh. Daher ist es gut, wenn öfter der Rasenmäher über die Wiese fährt. Auf dem Zentralfriedhof oder auch in Spitälern mit Pavillons gibt es in Wien genug Flächen mit Wildkräutern", sagt Henzl. Wer sich nicht gleich drübertraut, selbst zu sammeln, kann in ihrem Geschäft den regelmäßig frisch gezupften Wildkräutersalat kaufen. Abenteuerlustige und Mutige sammeln einfach drauflos. Um einer Besitzstörungsklage zu entgehen aber bitte nur auf öffentlichen Flächen oder im eigenen Garten. (Alex Stranig, RONDO, 12.8.2016)

Foto: Lukas Friesenbichler

Der junge Wiesensalbei kann wie normaler Küchensalbei als Gewürz verwendet werden, schmeckt aber nicht ganz so intensiv.

Foto: Lukas Friesenbichler

Der Spitzwegerich wächst auch auf kleinen Wiesen und entlang von Wegen in der Stadt. Seine Blätter können als Salat verwendet werden.

Foto: Lukas Friesenbichler

Schafgarbe kann man pur essen oder trocknen und als Tee trinken. Die aromatische Pflanze findet man häufig im Flachland.

Foto: Lukas Friesenbichler

Der Portulak kann als Gewürz oder Gemüse verarbeitet werden. Man kann sowohl die Blätter als auch die Blütenknospen essen.