Donald Trump erzählt seinen Fans die immergleichen Geschichten über den Verfall der Vereinigten Staaten. Die US-Industrie ist nach China oder Südkorea abgewandert, und die Wirtschaft wächst nicht mehr, wettert Trump im Wahlkampf. Menschen finden keine oder nur mehr schlechtbezahlte Arbeit, die Mittelschicht wird zerstört und finanziell ausgepresst, sagt der Republikaner. Bei der Vorstellung seines wirtschaftspolitischen Programms am Montag wählte Trump mit Detroit sogar einen Ort, der den von ihm beschriebenen Verfall symbolisiert. War Detroit nicht früher die Automobilmetropole der Welt, während die Stadt heute gegen Kriminalität und Arbeitslosigkeit kämpft? Mit seiner Antifreihandelsrhetorik stößt Trump sogar bei Linken auf offene Ohren.

Das Problem an dieser Erzählung ist bloß, dass sie nicht stimmt. Die USA sind nicht am Ende, weder politisch noch ökonomisch, das Land ist nicht einmal auf einem absteigenden Ast. Für so gut wie jede von Trumps Behauptung lässt sich zeigen, dass sie nicht stimmt oder verzerrt ist. Beispiel Arbeitsmarkt/Wachstum: Die US-Arbeitslosenrate liegt derzeit bei unter fünf Prozent – und damit auf einem der niedrigsten Werte seit 1945, die Wirtschaftskrise lässt sich aus der Arbeitslosenstatistik gar nicht mehr ablesen. Das Land wächst zwar langsam, doch das ist ein globales Phänomen, unter dem Europa oder Japan noch stärker leiden.

Einkommen seit den 1970ern stark gestiegen

Beispiel Mittelschicht: Die Mittelschicht in den USA musste seit dem Jahr 2000 Einkommenseinbußen im Ausmaß von fünf Prozent hinnehmen, so viel ist richtig. Die Zahl der Menschen, die in einem Haushalt mit mittleren Einkommen leben, ist laut einer Studie des Pew Research Center nach fast vier Jahrzehnten Wachstum zuletzt gesunken. Doch das Einkommen eines durchschnittlichen Haushalts liegt laut Pew heute inflationsbereinigt immer noch um 35 Prozent höher als 1970. Der Grund dafür ist vor allem, dass heute mehr Frauen als früher beschäftigt sind und so das Einkommen der Familie erhöhen. Dass die Mittelschicht in den USA wegschmilzt, liegt laut derselben Studie eher daran, dass Menschen den Sprung nach oben schaffen, und nicht daran, dass sie sozial abstürzen. Den Zerfall der Mittelschicht kann man, wenn man will, genauso gut als sozialen Fortschritt interpretieren.

Beispiel Freihandel: Forscher schätzen, dass wegen der Konkurrenz in Südostasien in der US-Industrie ein bis zwei Millionen Jobs verlorengegangen sind. In Detroit zum Beispiel hat das Absterben der Industrie tatsächlich verheerende Folgen, Kriminalität und Armut haben zugenommen.

Nicht nur China ist Schuld

Doch ein großer Teil der durch die Deindustrialisierung verlorengegangenen Arbeitsplätze ist im Dienstleistungssektor neu entstanden. Und die Industrie ist nicht nur verschwunden, weil nun Chinesen oder Südkoreaner den Job erledigen. Als größter Treiber der Fabriksterbens gilt die zunehmende Automatisierung. Und Trump unterschlägt natürlich, dass die Mehrzahl der Amerikaner Nettoprofiteure des Freihandels sind: Konsumelektronik war in den USA gemessen an der Kaufkraft noch nie so günstig wie heute, das Angebot war noch nie so groß. Das liegt in den Vereinigten Staaten wie im Rest der Welt natürlich daran, dass in Südostasien Fernseher, Kühlschränke, Pkws und iPhones extrem billig gefertigt werden.

Das alles bedeutet keineswegs, dass es in den USA nicht große soziale Probleme gibt. Kriminalität, Waffengewalt und Armut sind in den Vereinigten Staaten ein größeres Problem als in Europa. Das öffentliche Bildungssystem liegt in großen Teilen der USA brach. Doch all das hat es schon in der Blütezeit der US-Industrie und lange vor dem Aufstieg Chinas gegeben. Denn worunter die US-Gesellschaft tatsächlich am meisten leidet, ist, dass ihr jener Ausgleich fehlt, den die Sozialsysteme in Europa leisten. Und Trump? Der würde die Lage nur noch schlimmer machen.

Seine Pläne, die Steuern für Unternehmen und Besserverdiener zu senken, würden die Möglichkeit des Staates, den Globalisierungsverlierern mit Beschäftigungsprogrammen und einer besseren Ausbildung zu helfen, weiter reduzieren. Unter Präsident Barack Obama ist mehr für die Schwächsten im Land getan worden als in vielen Jahrzehnten davor: Ein neues Gesetz (Obamacare) hat dafür gesorgt, dass sich heute zusätzlich 15 Millionen Amerikaner eine Krankenversicherung leisten können. Die Zahl der Nichtversicherten ist heute kleiner als je zuvor. Trump hat schon mehrmals angekündigt, Obamacare widerrufen zu wollen. (András Szigetvari, 9.8.2016)