Die Überstunden mit dem Zeichenprogramm und die vielen Abendtermine sind Elma von Boxel anzusehen. Jetzt steht die Architektin vom niederländischen Büro Zus aber entspannt auf einer Rampe aus signalgelb lackiertem Holz, wie man es auf Baustellen findet. Die Wände des Luchtsingel sind leicht schützend nach innen gekippt, schließlich zieht es in Rotterdam das ganze Jahr über wie in einem Vogelhaus. Luchtsingel heißt auf Niederländisch so viel wie Luftkanal.

Der Luchsingel (Luftkanal) verbindet als kanarigelbe Fußgängerbrücke den Bahnhof mit dem historischen Viertel Laurenskwartier.
Foto: Rotterdam Branding Toolkit / iris van den broek

Zum Bahnhof Rotterdam Centraal Station sind es über diese kanarigelbe Fußgängerbrücke nur ein paar Schritte. Spaziert man in die Gegenrichtung weiter, gelangt man zum historischen Stadtviertel Laurenskwartier. Die Passage kann aber noch mehr: Sie verbindet die Hektik des Bahnhofs mit der Stille des ersten kommerziell geführten Dachgemüsegartens der Stadt, dem Dakakker, auf dem eigentlich heruntergekommenen Bürogebäude Schieblock.

Viele Brückenbauer

Vor allem aber verbindet der Luftkanal Menschen. Die Los Bangeles mit der Familie Pijp. Herrn Pim de Feijt mit Herrn Menno t’ Jorieks. Insgesamt 8000 Namen sind auf der 350 Meter langen Fußgängerbrücke eingeprägt, die in Summe für eine neue Form von Bauherrenschaft stehen. Bereits für 25 Euro waren die Brückenbauer mit von der Partie. "Ab diesem Betrag wurde der Name der Unterstützer eingraviert", erzählt Elma von Boxel vom Büro Zus – das steht für Zones Urbaines Sensibles.

Rotterdams Art zu bauen wurde in den vergangenen Jahren mit Preisen für gute Stadtplanung geradezu überhäuft. Das mag daran liegen, dass man sich sogar an Orten wie der Wolkenkratzer-Halbinsel Wilhelminapier oder in einem Bahnhof wohlfühlen kann.

Das jüngste Architekturwahrzeichen von Rotterdam nennt sich "Hufeisen" und ist eine Markthalle.
Foto: Rotterdam Branding Toolkit / Ossip van Duivenbode

Das jüngste Architekturwahrzeichen der Stadt, die "Hufeisen" getaufte Markthalle, erzählt zudem eine klassische Rotterdam-Geschichte ganz neu. Sie handelt vom Duft der Käselaibe und vom Stillleben der Marktstände, Letzteres wurde in Form einer Collage der niederländischen Künstler Arno Coenen und Iris Roskam auch auf die Decke projiziert. Ausschlaggebend für die überdachte und dennoch luftige Bauweise der Halle, die Rotterdams Ruf einer hippen Stadt weiter verfestigte, waren die strengen Hygieneverordnungen der Niederlande. Offene Märkte sind dabei nicht länger vorgesehen.

Ein Making-of der Markthalle
DCN Diving

Rund um Rotterdams Centraal Station gibt es aber noch weitere Überraschungen, denn von hier aus ist sogar der berühmte Hafen zu sehen: Ruderer in langen Booten sind auf einem vierzig Meter langen Bildschirm zu bewundern – ein Geschenk des Port of Rotterdam an alle Bahnfahrer. Europas größter Hafen, der sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter von der Stadt entfernte, wurde so ins Zentrum zurückgeholt: Auf dem Bildschirm wuchten Kräne Container hin und her. Dann übernehmen wieder Nahaufnahmen von Ruderern und der Takt ihrer Paddel – das macht Lust auf eine spätere Rundfahrt in diesem lebenswerten Labor der Logistiker.

Der Hafen ist weit entfernt vom Bahnhof Rotterdam, Ruderer gibt es trotzdem zu sehen: auf riesigen Bildschirmen.
Foto: Rotterdam Branding Toolkit / Claire Droppert

Die Architekten haben Rotterdams 2014 eröffneten Bahnhof als Nahtstelle sehr unterschiedlicher Stadtteile konzipiert. Richtung Norden öffnet sich der Bau so behutsam, wie es für das angrenzende Wohnviertel Provenierswijk wünschenswert ist. Hier dimmt noch das backsteinrote Leuchten einer archetypischen niederländischen Vorstadt des 19. Jahrhunderts die Betriebsamkeit einer Großstadt herunter.

Auch die alten Wohnviertel rund den Bahnhof wurden in den vergangenen Jahren ordentlich aufgepeppt.
Foto: Rotterdam Branding Toolkit / Claire Droppert

Richtung Süden weitet sich die Fassade zu einer dynamischen Metropole des neuen Jahrtausends, in der die Wege offen sind, der Himmel und die schnellen Wetterumschwünge spürbar und die Abstellplätze für 5200 Räder nötig. Besser als die breiten Radfahrwege sind jene 130.000 Solarzellen versteckt, die 10.000 Quadratmeter Bahnhofsdach belegen – in Summe bilden sie das größte Sonnendach der Niederlande und eines der größten Europas. 110.000 Passagiere nutzen Rotterdam Centraal täglich als Knotenpunkt internationaler Schnellzüge und der Vorortelinie Randstad Rail – die Kapazität soll sich in den nächsten beiden Jahrzehnten noch verdreifachen.

Eine frische Brise Aufbruch

Rotterdam ist eine mutige Versuchanstalt für Architektur. Ein Ort, der der Enge umliegender flämischer Altstadt-Ensembles eine zerfahren wirkende Weite und die frische Brise von Aufbruch und Vision entgegensetzt. Das wird einem nicht nur bei den zahlreichen architektonischen Themenspaziergängen vermittelt, sondern auch beim Shopping bewusst. Wer mag, kann sich gleich hinter dem Bahnhof im Concept-Store Groos, der ausschließlich Produkte Rotterdamer Designer anbietet, davon überzeugen – und dann Papierbögen stadtbekannter Bauten kaufen, die sich nett falten und zusammenkleben lassen. Sightseeing mit Uhu-Stic.

Rotterdam hat den größten Hafen Europas. Im Laufe der Jahrzehnte ist er immer weiter aus dem Zentrum an den Rand der Stadt gerückt.
Foto: Rotterdam Branding Toolkit / Ossip van Duivenbode

Der Zweite Weltkrieg und der anschließende Wiederaufbau haben dafür gesorgt, dass die Architekturhauptstadt der Niederlande nun ein umfassendes Spektrum verschiedener Stile versammelt – Raum für spleenige Ideen inklusive. Die diagonal aufgesetzten Kubuswohnhäuser von Architekt Piet Blom zählen schon seit den 1980er-Jahren zu diesen schrägen Ansätzen. Blom sah die Häuser als Bäume, mit einem Stamm zur vertikalen Erschließung und der Wohneinheit als Baumkrone. Zuletzt machte das futuristische Windwheel von sich reden, ein Konzept für einen als gewaltiges Windrad gestalteten Wohnblock, der ohne bewegliche Rotoren und Lärm Energie erzeugen soll.

Architekt Piet Blum schuf die "Kubuswohnhäuser" in Rotterdam.
Foto: Rotterdam Branding Toolkit / Ossip van Duivenbode

In Bewegung bleibt diese Stadt freilich auch so. Sukzessive werden ehemalige Hafengebiete gentrifiziert, die von einer quirligen Flotte öffentlicher Amphibienbusse angesteuert werden. Und blickt man durch die Glasscheiben des stylischen Mainport-Hotels am Leuvehaven, dann breitet sich auch die Metamorphose der Stadt wie in einem Wimmelbuch aus: Historische Schlepper sind zu sehen, die sich im musealen Oude Haven aus dem 14. Jahrhundert an der Kaimauer reiben, und Männer mit gelben Gummijacken. Weiter südlich leuchtet der stahlgraue "Schwan", wie das Wahrzeichen Erasmusbrücke von den Einheimischen liebevoll genannt wird – sie ist die längste Schrägseilbrücke der Welt.

Wilheminapier ist eine Halbinsel im Hafen auf der sich international renommierte Architekten austoben durften.
Foto: Rotterdam Branding Toolkit / 500Watt

Zum sanierten Hafengebiet Kop van Zuid am Südufer der Rotterdamer Innenstadt ist es von dieser Brücke nicht weit. Dort liegt schließlich Wilhelminapier, die Halbinsel, auf der Architekten wie Renzo Piano, Norman Foster oder Mecanoo die jüngste Skyline-Tranche geschaffen haben und Rem Koolhaas den unverkennbaren Wolkenkratzer De Rotterdam.

Aber eine Stadt wie Rotterdam wächst auch nur bei Bedarf über sich selbst hinaus. Das beweist der für Kreuzfahrtpassagiere entwickelte Pop Up Luggage Space. Die Aussichtsterrasse am Kreuzfahrtterminal dient im Bedarfsfall als Gepäckdepot und kann wie ein Regenschirm aufgespannt werden. Ankommende werden wie auf einer Bühne empfangen. (Robert Haidinger, 7.8.2016)