Bundeskanzler Kern sieht keine Chancen für einen EU-Beitritt der Türkei.

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EU-Flagge über einer Istanbuler Moschee (Archivbild aus dem Jahr 2005)

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Wien – Bundeskanzler Christian Kern will in der EU den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zur Diskussion stellen. Das erklärte der SPÖ-Politiker am Mittwoch auf eine entsprechende Frage in der "ZiB 2" des ORF-Fernsehens. Es sei sein Vorsatz, dieses Thema "am 16. September im Europäischen Rat" aufs Tapet zu bringen. "Es braucht ein alternatives Konzept."

"Nicht jetzt und nicht in den kommenden Jahrzehnten", diagnostizierte Kern gegenüber der Tageszeitung "Die Presse". "Man muss da der Realität ins Gesicht sehen: Die Beitrittsverhandlungen sind derzeit nicht mehr als eine Fiktion. Europa braucht einen neuen Weg."

Das liege aber weniger an Präsident Recep Tayyip Erdoğan und aktuellen "problematischen demokratiepolitischen Entwicklungen" als an "wirtschaftlichen Disparitäten", so der Bundeskanzler. Solche gebe es auch schon im Hinblick auf den Zugang von Menschen aus südost- und zentraleuropäischen Staaten zum Arbeitsmarkt. "Und bei diesen Herkunftsländern ist der Abstand zum Lohnniveau noch vergleichsweise klein."

Nicht vertretbar

Wenn man nun die Tür für die Türken öffnen und ihnen die vier Grundfreiheiten der EU (für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen) einräumen würde, "dann würde das zu massiven wirtschaftlichen Verwerfungen führen, die in Europa nicht mehr vertretbar sind", so der sozialdemokratische Regierungschef.

Die EU solle vielmehr nach einem neuen machbaren Weg der wirtschaftlichen Heranführung der Türkei suchen. Denn bei aller Kritik bleibe die Türkei natürlich ein wichtiger Partner in sicherheits- und migrationspolitischen Fragen.

"Europa kein Bittsteller"

Dass die Türkei nun das Abkommen mit der Europäischen Union in der Flüchtlingspolitik aufkündigt, glaubt Kern übrigens nicht: "Ökonomisch sitzen wir auf dem längeren Ast. Die Türkei ist von uns weitgehend abhängig." Kern räumte aber ein: "Die Türkei leistet einen entscheidenden Beitrag, dass derzeit nicht so viele Flüchtlinge nach Österreich kommen."

Ankara hätte die im Deal vereinbarte Schengen-Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger lieber heute als morgen. Dafür hat sie die meisten Punkte auch erfüllt, es hakt aber an der von Brüssel geforderten Reform der Antiterrorgesetze. Nun kam zu dem bewaffneten Kurdenkonflikt auch noch ein gescheiterter Putsch dazu, sodass die türkische Regierung noch weniger Interesse an den Reformen zeigt.

Ohne die EU-Türkei-Vereinbarung, findet Österreichs Kanzler Kern, wäre die Schließung der Balkanroute Makulatur. Das Problem würde dann zuerst nach Griechenland verlagert und später in Richtung Serbien und Ungarn. "Man kann dann nicht auf Dauer sagen: Das ist allein ein griechisches Problem. Das wird dann zum Problem für uns alle."

Türkischer Europaminister kritisiert Kern

Der türkische Europaminister Ömer Celik hat Kern wegen dessen Aussagen kritisiert. Celik sagte am Donnerstag, diese Erklärungen bereiten ihm "Unbehagen". Außerdem sei es "verstörend, dass seine Stellungnahme ähnlich jener der Rechtsextremen" sei. Klar sei, dass die "Grundwerte der EU" die Referenz für die Türkei blieben, fügte er hinzu.

Celik fügte hinzu, dass es natürlich das demokratische Recht sei, Kritik zu üben. "Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Kritik an der Türkei oder gegen die Türkei zu sein". Klar sei, dass die "Grundwerte der EU" die Referenz für die Türkei blieben, betonte Celik.

Auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte laut AFP, dass es ein "schwerer außenpolitischer Fehler" sei, Ankara die Tür zuzuschlagen.

"Gegenüber Ankara nicht in die Knie gehen"

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat n Kern (SPÖ) in Schutz genommen. Er weise die Kritik des türkischen Europaministers Ömer Celik scharf zurück, schrieb Kurz am Donnerstag auf Twitter.

Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) unterstützt ebenfalls die Forderung von Bundeskanzler Kern (SPÖ). Der Vorstoß sei abgesprochen gewesen, hieß es gegenüber der APA am Donnerstag.

Doskozil für Stopp der Beitrittsgespräche

Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) fordert als erstes Regierungsmitglied unumwunden einen Stopp der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei. "Die Zeichen stehen ganz klar auf Diktatur und so ein Staat hat in der EU nichts verloren", betonte Doskozil. Es sei der Zeitpunkt gekommen, klar zu sagen, dass die Verhandlungen "auszusetzen beziehungsweise zu beenden sind".

Auch beim Thema Visa-Freiheit – die Türkei stellte hier zuletzt ein Ultimatum und drohte mit einer Kündigung des Flüchtlingsdeals – bremst Doskozil: Wenn man höre, was passiert und dass möglicherweise von der Türkei sehr großzügig Staatsbürgerschaften (an Syrer) vergeben würden, gebe es derzeit "keine konkreten Anhaltspunkte", in Richtung Visa-Liberalisierung zu gehen. (APA, 4.8.2016)