Gatersleben – Die genetische Ausstattung der Organismen auf unserem Planeten stellen trotz umfangreicher Forschungen auf diesem Gebiet immer noch ein großes Rätsel dar: Eine der interessantesten Fragen ist nach wie vor, warum die Komplexität einer Lebensform offenbar wenig mit dem Umfang ihrer genetischen Ausstattung zu hat. Deutschen Wissenschaftern ist es nun erstmals gelungen, eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen vorzulegen.

Der größte Teil der genetischen Information eines Lebewesens, das Genom, wird mit Ausnahme der Bakterien im Zellkern jeder Körperzelle in Form von Chromosomen gespeichert. Von Generation zu Generation muss diese Information, die in doppelsträngigen DNA-Molekülen codiert ist, einerseits möglichst unverändert weitergegeben werden. Andererseits ist es aber auch notwendig, dass das Genom in Grenzen veränderbar ist, damit sich Lebewesen an die sich über Generationen hinweg ändernden Umweltbedingungen anpassen und damit ihre Überlebensfähigkeit sichern bzw. verbessern können. Solche Veränderungen geschehen häufig durch fehlerhafte Reparatur von Brüchen in der DNA und können über Zellteilungen an Tochterzellen und Nachkommen weitergegeben werden.

Über Generationen hinweg kann sich im Laufe der Evolution so die Genomgröße, die Chromosomenzahl und auch die Anzahl der Gene verändern. Überraschenderweise konnte allerdings kein Zusammenhang zwischen der Größe eines Genoms, der Anzahl seiner Chromosomen und der darin enthaltenen Gene beobachtet werden. Während die Anzahl von Genen zwischen verschiedenen Arten sich um das Zweifache unterscheiden kann, können sich die Anzahl von Chromosomen um das 100-fache und Genomgrößen sogar um das 2500-fache unterscheiden. Darüber hinaus scheint sich Genomgröße auch nicht mit der steigenden Komplexität von Organismen erklären zu lassen. Über die Ursachen für diesen Befund konnten Wissenschaftler bisher nur spekulieren.

Eine Frage der Reparaturmechanismen

Ein Team um Ingo Schubert und Giang Thi Ha Vu vom Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben stellen nun im Fachjournal "Trends in Plant Science" eine Hypothese zur Evolution von Genomgrößen und Chromosomenanzahlen vor, die diese Fragen beantworten könnten. Die Forscher glauben, dass die Genomgröße und Chromosomenzahl mit den jeweils in der Population bevorzugten Reparaturmechanismen für das Beheben von Doppelstrangbrüchen in der DNA zusammenhängt.

"Wir vermuten, dass es in der Natur drei Strategien für diesen Reparaturmechanismus gibt", erläutert Schubert. "Abhängig von der enzymatischen Ausstattung, unterscheiden sich Arten hinsichtlich der Neigung, Fehler bei der DNA-Doppelstrangbruchreparatur zu beheben. Entweder wird häufiger ein Stück des DNA-Strangs entfernt, oder dieser um ein Stück erweitert, oder aber es besteht ein Gleichgewicht zwischen Entfernen und Erweitern von genetischem Material beim Reparieren von DNA-Strangbrüchen."

Im ersten Fall wird die zunehmende Verkleinerung des Genoms, welche die Überlebensfähigkeit einer Population langfristig verringern könnte, durch (wiederholte) Verdopplung der Chromosomenzahl kompensiert. Auf diese Weise wird das Risiko reduziert, dass genetische Informationen während der Weitergabe an die nächste Generation verloren gehen. Doppelstrangbruch-bedingte Chromosomen-Umstrukturierungen, die mehrere Chromosomen in eines kombinieren und besonders in Lebewesen mit sehr kleinen Genomen auftreten, verhindern, dass die Chromosomenanzahl ins Unermessliche anwächst.

Gleichgewicht zwischen Verkürzung und Erweiterung

Im zweiten Fall wird das Genom immer weiter vergrößert, jedoch die Chromosomenzahl variiert kaum. Das ist etwa für Nadelbäume typisch. Bei etlichen Gruppen höherer Lebewesen, meist von mittlerer Genomgröße, wie beispielsweise Säugetieren und Vögeln, scheinen die Reparatur von Brüchen des DNA-Strangs gleichgewichtig sowohl durch Erweiterung als auch Verkürzung vorgenommen werden zu können, wodurch sich sowohl die Genomgröße kaum verändert und die Anzahl der Chromosomen in der Regel keine bestimmte Tendenz der Veränderung erkennen lässt.

"Wir sehen nun, durch unsere eigenen Versuchsergebnisse erhärtet, die Evolution von Genomgröße, Chromosomenzahl und DNA-Doppelstrangbruchreparatur im Zusammenhang. Das erklärt die teils entgegengesetzten Evolutionsverläufe dieser Parameter und bietet eine neue Interpretation für die fehlende Korrelation von Genomgröße und genetischer Komplexität", meint Ingo Schubert. (red, 6.8.2016)